Leseprobe
(Auszug aus den Gewinnerbeiträgen
im Literaturwettbewerb „Auf ins Blaue“)
Elisabeth Gehring
Wahre Feen tragen blau
Verzagt rieb Lisa sich ihren linken Handrücken. Schon wieder
hatte er sie gepackt, und auch dieses Mal konnte sie es nicht verhindern.
Eine dicke Träne bahnte sich ihren Weg über die heiße
Wange und platschte neben die frische gerötete Stelle. Das
würde mit Sicherheit erneut ein blauer Fleck werden – so
wie nach den unzähligen Malen, wenn ihr Vater betrunken nach
der Arbeitssuche nach Hause gekommen war.
„
Wo bist du, freche Göre? Na warte“, schallte es aus
dem anliegenden Zimmer zu ihrem Unterschlupf herüber, „dir
werde ich noch Respekt lehren!“ Der Vierunddreißigjährige
schnauzte den großen Ficus benjamin neben dem alten Röhrenfernseher
an – im Ersatz zu der gerade sich versteckenden Tochter.
Die Faust ballte sich wütend zusammen, die Fingernägel
gruben sich tief in die Handfläche. Im nächsten Moment
entlud sich auch schon sein Zorn auf die ganze Welt am Hauptspross
der unschuldigen Zimmerpflanze. Eine Sekunde später kippte
das fast mannshohe Grünzeug mit deutlichem Scheppern zu Boden.
Der zerbrochene Keramikübertopf war nun ein Kollateralschaden.
Lisa kauerte sich noch mehr in ihrem Versteck zusammen. Hinter
dem blauen Solsta-Sofa, das sie sich vor zwei Jahren, als Papa
noch Arbeit hatte, bei Ikea zum Geburtstag wünschen durfte,
war sie zumindest für wenige Momente sicher. Aber wie lange?
Das Klirren hatte sie problemlos selbst in ihrem Kinderzimmer hören
können. Bestimmt würde sie für den Schaden am Blumentopf
alleinig beschuldigt werden. Wie immer.
„
Wenn diese Wutausbrüche einfach verschwinden könnten“,
wimmerte leise die zarte Neunjährige in ihrer Verzweiflung.
Ihre Hände zitterten vor Angst. Sogleich presste sie diese
rasch an ihren Kindermund, um nun nur ja keinen verräterischen
Laut mehr von sich zu geben. Doch das half alles nichts. Die Kleine
hörte schon die Schritte. Sie kamen definitiv in ihre Nähe.
Die Angst vor der bevorstehenden Konfrontation mit ihrem Vater
wurde mit jedem Herzschlag größer. Die Lungen ließen
wie paralysiert kaum einen Atemzug zu. Das Herz hingegen pochte
panisch schnell.
„
Du kleines Biest“, hallte es plötzlich durch ihr Kinderzimmer, „du
bist an allem schuld! Komm raus… sofort!“
Eiskalt lief es Lisa ihren Rücken runter. Sauer, richtig wütend
war ihr Papa. Und sie hatte nicht einmal eine Vorstellung, worüber
eigentlich. Jedoch spielte das nun keine Rolle. Einen Grund gab
es oft nicht. Ihre schon blaugrün durchwachsenen Blutergüsse
von vor zwei Tagen schmerzten im Nu gleich wieder mehr. Er hatte
sie so stark gegen ihr blaues Lieblingssofa geschubst, sodass sie
sich trotz der Polsterung wehgetan hatte. Damals hatte es zumindest
mal einen Auslöser gegeben: die alte himmelblaue Kaffeetasse
von Opa, die Lisa beim Spielen mit ihrer jüngsten Schwester
Marie versehentlich umgestoßen hatte. Der Großteil
der warmen Milch hatte sich über der Lehne der azurblauen
Couch verteilt. Zumindest hatte ihr kleines Schwesterherz bei jenem
Missgeschick rechtzeitig aus Papas Wutradius entfliehen können.
„
Jetzt mach schon, komm endlich raus!“, rief der Familienvater
ungeduldig in den Raum hinein, mit geballter Faust als mögliche
Antwort. Lisa schluckte schwer. Ihr Papa musste dieses Mal besonders
viel getrunken haben, denn seine Fahne konnte sie mittlerweile
sogar bis zu ihr riechen. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
Bibbernd vor Angst kauerte sie sich noch mehr hinter ihrer Lieblingscouch
zusammen. Fest kniff sie ihre Augen zusammen. Mit etwas Glück
half dies. Wenn sie ihn nicht sehen konnte, vielleicht blieb sie
ebenso für ihn unentdeckt. Es war zumindest ein herrlich tröstlicher
Wunschgedanke, selbst wenn es unrealistisch war. Nervös umfasste
sie ihre alten blauen Flecken. Wie lange noch war sie in Sicherheit?
Die Sekunden vor der erwarteten Zornentladung waren unerträglich.
Es war nur zu hoffen, dass ihre um zwei Jahre ältere Schwester
Anna noch nicht so bald mit Marie vom Kindergarten zurückkommen
würde. Wenn alle drei Mädchen zuhause waren, war der
Jobsuchende für gewöhnlich rascher aufgebracht und konnte
deutlich schneller seine Beherrschung verlieren. War Mama für
ein paar Stunden in der Arbeit, geschahen zudem viel leichter solche
Wutausbrüche.
Seit dem Jobverlust vor zwei Jahren war der früher so liebenswerte
Vater nicht mehr wieder zu erkennen. Der Alkohol hatte ihn vollkommen
verändert. Wenn er blau schon vor dem Abendessen war, spürte
dies die gesamte Familie. Je mehr er trank, desto schwerer tat
er sich bei der Arbeitssuche. Aber je länger seine Zeit als
Arbeitsloser dauerte, umso mehr becherte er aus Frust und Scham
in sich hinein. Ein Teufelskreis, den beide größeren
Mädchen, Anna und Lisa, schon deutlich mitbekamen. Für
die Familienmutter war es schwer. Immens überfordert durch
Job und Haushalt hielt sie aus Liebe zu ihrem Mann – und
nicht nur aufgrund der Hoffnung, ein Job würde ihren geliebten
Ehemann wieder in die frühere Version zurückverwandeln.
Während sie in ihrer Arbeit ihr Bestes gab, Geld zum Abbau
der Schulden zu verdienen, bekam sie dadurch vieles nicht mit.
Nur für die dreijährige Marie war das Bild von ihrem
Papa noch ziemlich heil. Sie glaubte ihm noch, wenn er in den kurzen
nüchternen Phasen das Blaue vom Himmel versprach.
Auf einmal griff eine verschwitzte warme Hand fest an den Nacken
der Neunjährigen. Lisa quietschte auf. Diese Aktion war nun
doch unerwartet. Energisch und höchst ungeduldig zog ihr Vater
sie an ihrem pastellblauen Eiskönigin-Pulli hoch. Die Fäden
des dünnen Strickpullovers ächzten verdächtig. Es
fehlte nicht viel, und die Finger würden ein großes
Loch in das Lieblingsteil des erschrockenen Mädchens reißen – als
ob die Blutergüsse nicht schon genug waren. Und da war er
gerade – der typische von Lisa gefürchtete Ton, der
beim Zerreißen von Gewand entsteht. Der Pullover, das über
alles geliebte Teil, war ruiniert!
Lisas Herz pochte wie wild, sie war ihm ausgeliefert. Innerlich
war die Kleine bereits gebrochen – ihr liebstes Gewand, der
zartblaue Pulli, war kaputt. In diesem fühlte sie sich immer
stärker, geschützter. Wie die eisblaue Königin Elsa
aus der Disney-Geschichte glaubte sie als großer Fan des
Zeichentrickmärchens, mit ihm Kräfte für den seelischen
Widerstand zu besitzen. Doch ohne diese Schutzhülle war ihr
Selbstvertrauen gleich null. Nackt, wie sie sich nun fühlte,
rechnete Lisa jederzeit mit einer kräftigen Ohrfeige, auch
wenn sie noch immer nicht wusste, warum eigentlich.
Noch immer hielt der Vater seine Tochter äußerst fest.
Der Griff bei der Schulter war sehr unangenehm, es brannte schon
deutlich. Die Kleidung spannte trotz des Risses und schnürte
die Haut darunter empfindlich ein. Das Mädchen, nun vor ihrem
Papa, aber noch hinter dem Sofa stehend, wagte überhaupt nicht,
ihn anzusehen. Dies würde das sicher baldige Klatschen der
Hand auf ihrem Gesicht auch nicht erträglicher machen. Keine
Macht der Welt, und schon gar nicht die der Eiskönigin, konnte
ihr nun helfen. Sie war alleine mit ihrem betrunkenen Papa. Starr
hielt sie ihren Blick auf ihre Füße nach unten. Der
Vierunddreißigjährige holte aus und wollte schon die
kräftige Watsche verteilen, als es plötzlich an der Haustüre
Geräusche gab. [...]
Helmut Glatz
Debussy
Er schrieb vom Zauberglanz unendlich blauer
Pausen, die ins Meer der Töne fielen,
auf dessen Wellen helle Lichter spielen
im ew´gen Tanz von Heiterkeit und Trauer.
In seltsamer Verwandlung werden Schleier
zu schönen Körpern, die hernach vergehen.
Bemerkst du es, so ist es schon geschehen.
Wie Lachen tönt´s im Uferschilf am Weiher.
Und aus dem Laubwerk klingt der Flöten Klage.
Ein Windhauch schaukelt leise in den Bäumen.
Chevaux de bois. Nun ist es Zeit zum Träumen
im Schatten dieser stillen Nachmittage.
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