Die Gewinnergedichte des Gedichtwettbewerbes "Zeilen und Zeiten"



1. Preis

Hanna Fleiss

Eisland

Aufleuchtet
Das Kupfer des Abendaugs. So viele
Vögel sind schon gezogen, über Abgründe,
Über Tiefen der Ozeane.

Sturmvogel sein, über
Schneekappen der Pole ziehn wie er.
Flügel breiten wie er, einmal,
In eisiger Unendlichkeit.

Du hebst mich hinauf
Ins Licht des Albatrosflugs. Trage,
Wiege, umfang mich,
Bis ich von neuem geboren bin.


2. Preis

Ralf Burnicki

In den Städten

Jeder Morgen also zöge sich
die Luft den Mantel aus

Die Lichtwerdung
der Haushalte beginnt.
Das Geständnis der Städte lautet
Sichtbarkeit

Enttarnung:
Tage sind Licht-Aspirin
für Entfernungen.

Auf den Ausfallstraßen,
- Tonspuren der Städte -
Helligkeitsbefall

Geschwindigkeit
und Pünktlichkeitswahn,
unerziehbar.


3. Preis

Hans-Jürgen Gundlach

Starke Frau

Ja, ich lebe jetzt allein!
Ja, ich habe mich getrennt!
Lasse alles einfach sein,
was man Ehe-Alltag nennt.

Stelle nicht mehr jeden Tag
pünktlich so um zwölf Uhr dreißig
auf den Tisch, was Papa mag,
sag´ nicht mehr: „Na, warst Du fleißig?“

Schieb´ ihm nicht die Zeitung zu,
hinter der er sich verschanzt,
les´ zuerst sie und in Ruh,
knitterfrei, nicht ausgefranst.

Jeden Morgen sein Geschimpfe
brauche ich nicht mehr zu hören,
nur weil meine Nylonstrümpfe
ihn beim Nassrasieren stören.

Und mich drüber ärgern müssen,
was er macht und zwar vorsätzlich
mit den Tuben-Drehverschlüssen,
finde ich total entsetzlich.

Seine Feste mitzufeiern,
seine Leiden mitzuleiden,
seine Schwächen zu verschleiern
und zu teilen seine Freuden,

hab´ ich satt bis zu den Ohren!
Seine schweißgetränkten Socken,
die er irgendwo verloren,
müssen mich nicht länger schocken.

Mag kein Bier in Männer-Küssen,
nicht die Sofa-Übernachtung,
nicht das Alles-Besser-Wissen,
nicht die tägliche Missachtung.

Komm´ alleine besser klar,
auch mit handwerklichen Sachen,
denn man braucht nicht, ist doch wahr,
soviel Lärm und Dreck zu machen.

Tageweise mitgezählt,
wie viel Wörter er so spricht,
wenn er sich so richtig quält:
mehr als zwanzig war´n es nicht.

Ja, da schalte ich doch lieber
meinen Lieblingssender ein,
denn dort hör´ ich Liebeslieder -
auch das Lieben ließ er sein.

Nein, ich habe mich entschieden,
nicht mehr an dem Mann zu kleben.
Mann und Frau sind zu verschieden -
statt zufrieden
ihm zu dienen,
will ich leben.


4. Preis

Wolfgang Reuter

Es kommt alles mal wieder

Die Kamera-Augen der Stasi
warn kaum überall demontiert,
da hat der Verfassungsschutz quasi
schon tausendfach neue platziert.

Es kommt eben alles mal wieder.
Was gestern noch „unmenschlich“ war,
(man machte es schonungslos nieder)
das gilt heute als wunderbar.

Wie war einst das Ostgeld verschrien
als Geld ohne Wert und Gewicht.
Der Lohn, den wir heute beziehen,
der reicht kaum für Miete und Licht.

Man kreischte: „Ihr quält eure Kinder,
sie werden in Krippen verbracht!“
Heut lobt man die Krippen-Erfinder.
Wer hätte das jemals gedacht?

Es kommt eben alles mal wieder.
Was gestern noch „unmenschlich“ war,
(man machte es schonungslos nieder)
das gilt heute als wunderbar.

Wer scharf war auf Ost-Karrieren,
der musste ein Blauhemd anziehn.
Auch heut kann man sich nicht beschweren:
Man merkelts beim Blick nach Berlin.

Die Westsportler wurden als sauber
und drogenfrei ständig gelobt.
Vorbei ist der Ehrenmann-Zauber.
Jetzt wird auch im Westen gedopt.

Es kommt eben alles mal wieder.
Was gestern noch „unmenschlich“ war,
(man machte es schonungslos nieder)
das gilt heute als wunderbar.

Wie ängstlich saß einst die Regierung
im Wandlitzer Edelknast fest.
Kommt‘s heut zur G-8-Einquartierung,
wird Heiligendamm „Wandlitz-West“.

Wie war ich schockiert nach der „Wende“!
Ich dachte: Jetzt ist alles aus.
Nichts bleibt, wie es war. Basta! Ende!
Heut fühl ich mich wieder zu Haus.

Es kommt eben alles mal wieder.
Was gestern noch „unmenschlich“ war,
(man machte es schonungslos nieder)
das gilt heute als wunderbar.


5. Preis

Bettina Lichtner

Wenn Zeilen durch Zeiten reisen ...


Hallo Mensch! Willst du verweilen
und dir diese Dichterzeilen
kurz mal zu Gemüte führen?
Vielleicht öffnen sie dir Türen
zu den längst vergang‘nen Zeiten ...
Vielleicht willst du sie durchschreiten
oder willst du sie verriegeln
und versiegeln?

Komm, begib dich auf die Reise!
Fahr‘ in ganz besond‘rer Weise
durch die Zeiten deines Lebens.
Du wirst sehen, nicht vergebens
wird der Ausflug für dich bleiben,
denn durch Abschnitte zu treiben
ist befreiend, unvergesslich,
unermesslich.

Bringe deine Körperhülle
in den Zustand inn‘rer Stille
und verschließe deine Augen.
Lass nur die Gedanken saugen,
was Erinnerungen schicken.
Wird es dich vielleicht entzücken,
oder klagst du vor der Mauer
tiefster Trauer?

Öffne sie, die erste Türe.
Lenke deinen Blick und führe
ihn zurück in Kindertage.
Spürst du vielleicht noch ganz vage
längst vergangene Gefühle
anfänglicher Lebensspiele?
Diese Spannung auf das Neue,
dieses Scheue?
Siehst du dich als Kind noch springen,
tanzen, hüpfen, Lieder singen?
Fühlst du dieses Unbeschwerte?
Waren das nicht Lebenswerte,
die dir heut‘ verloren gingen?
Hörst du noch die Worte klingen,
all der Freunde und Verwandten,
die dich kannten?

Hörst du noch dein Kinderlachen?
Weißt du noch von all den Sachen,
die dein Herz so sehr erfreuten?
Ob die Eltern wohl bereuten,
dass sie dir mal böse waren?
Dachtest du in Kinderjahren
auch an das Erwachsenwerden
samt Beschwerden?

Sieh, die zweite Tür ist offen.
Welche Zeit wird angetroffen?
Ach, die alten Schülertage ...
War‘n sie Freude für dich oder Plage?
Und? Gefielen dir die Fächer,
oder willst du lieber Rächer
sein und fluchen über Lehrer?
Was wär‘ fairer?

Kennst du noch das Unbehagen,
als du auf die Lehrerfragen
aber auch so gar nichts wusstest?
Als du vor die Türe musstest,
weil du wieder mal gestört hast?
Mann, wie hatte dich empört, das
ungerechte Lehrertadeln.
Stach wie Nadeln ...

Schülerzeit - die Jugendsünden ...
Kannst du dich denn überwinden,
heute ihnen dich zu stellen?
Würden sie die Zeit erhellen
oder etwa gar verdunkeln?
Ü ber alte Sünden munkeln,
wäre dir das etwa peinlich?
Sei nicht kleinlich ...

Denk mal an das erste Küssen!
Wirst dich wohl erinnern müssen,
denn wer durch die Zeiten schlendert
- auch wenn Zeiten sich geändert
haben - erster Kuss weiß jeder!
War er sanft wie eine Feder
oder war er kurz und bündig,
oder sündig?

Schnell zur dritten Tür! Geh weiter ...
Welche Zeit war dein Begleiter?
Oh, die Ausbildung, die Lehre.
Kam dir etwa in die Quere
deine Lern-Unlust als Schüler?
Strecktest du nie deine Fühler
deiner Zukunftswelt entgegen?
Tja, von wegen ...

Hätten manche Zeugnisnoten
hier und da einst bess‘re Quoten,
wär‘s ein and‘rer Job geworden.
Aber schlechte Noten morden
still und leise, ja, man glaubt‘s kaum
manchen Traumjob oder Jobtraum.
Ä rgerst du dich heut‘ darüber?
Lass es lieber ...

Denn im großen und im ganzen:
auch, die aus der Reihe tanzen,
(beispielsweise in der Schule,
wo man einst der supercoole
Klassenclown und Störenfried war)
sind zufrieden mit dem Wirrwarr,
den die Jugendzeiten prägten
und bewegten.
Auf zur nächsten Tür. Die vierte ...
War es damals, als man spürte,
dass die Zeiten schnell vergehen,
und Momente schnell verwehen?
Hochzeit, Baby, und noch dreie!
Nachts der Babys Hungerschreie,
tags die Windeln, und die Hunde.
Stund um Stunde ...

Wenig Zeit für dich alleine,
manchmal hatten Uhren Beine,
und dann sah man Stunden fliegen,
war‘n auch nicht mehr einzukriegen.
Und auf einmal - kaum zu fassen,
hat die Brut das Nest verlassen.
Deine Pflichten war‘n erledigt.
Ausgepredigt.

Die nächste Tür ist neu für dich,
doch stehst du kurz vor ihr und ich
werd‘ sie dir öffnen, denn schon bald
gehst du hindurch, dann bist du alt.
In der gedanklichen stillen Welt
wird dir von mir von ihr erzählt.
Das Alter - hörst du, wie es schreit?
Bist du bereit?

Fünfte Tür. Auf deiner Reise
geht es Richtung „Land der Greise“.
Langsam kriegst du graue Haare,
du kommst in die Faltenjahre.
Mal zwickt‘s hier, mal kneift der Rücken,
Hexenschuss beim ersten Bücken,
Zähne kurz nach Lebensmitte
werden dritte.

Rentenzahlung viel zu mager,
kaum zu essen, Körper hager.
Beine klapprig. Treppenlifte.
Und dann noch ‘ne neue Hüfte.
Herz schlägt auch nicht mehr so dolle,
Junge sagen: „Schau, der Olle ...“
Futsch das jugendliche Schöne.
Leise Töne ...

Doch es kann auch anders kommen:
Kaum das Alter angenommen,
fährst du los, die Welt erkunden.
Möchtest selbige umrunden,
denn dank Rente, die recht propper,
bist du jetzt ein guter Shopper.
Erdumrundung, flotter Wagen.
Keine Klagen.

Du bist sportlich, jung und rüstig,
Schalk im Nacken, etwas listig.
Falten haben nur die andern,
frohgelaunt sieht man dich wandern
durch die schönen Rentnerjahre.
Dir erscheint der Weg zur Bahre
noch in ungreifbarer Ferne.
Fern wie Sterne ...

Und plötzlich ruft da wer HEX, HEX ...
Es öffnet sich Tür Nummer sechs,
lädt dich ein, sie zu durchschreiten.
Vor dir liegen ew‘ge Weiten
eine Ruhe, eine Stille,
und ein allerletzter Wille,
der schon lang im Herzen ruhte,
dieser gute.

Hast du jene Tür geschlossen
hinter dir, dann wird vergossen
manche Träne von den Lieben
die noch vor der Tür geblieben.
Du - derweil im Paradiese -
tanzt auf bunter Blumenwiese
unbeschwert und kindlich heiter
fröhlich weiter ...


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