Die Gewinnergedichte des Brandenburger Lyrikwettbewerbes (2022)



1. Preis

Peter Frank

Die Verlegung

Koffer, Schuhe
an der Mauer zum Rollfeld.

Hände, Blicke der Hirten
im Panzerglas verschwunden.

Portraits örtlicher Warlords,
Billboards der Ungläubigen,
ausgebrannte Fahrzeuge,
Wolf, Mungo,
Karnivoren
am Glutsaum der Pisten.

Kein Alter, keine Namen,
kein Alphabet in den Dörfern,
löchrige, flatternde Planen,
Blut der Gebärenden,
Bärte, Backenknochen,
die ruhigen Gesichter
an den Checkpoints
gleichen dem Land.

Land wie kein Land,
aus Steinen geboren,
von der Sonne gestillt,
begraben vom Schnee.

Geblieben
die Geduld der Gipfel,
die Gaben der Pilger,
das Haar der Frauen,
die Heiterkeit der Kamele.

Geblieben
der Wind, der Mohn,
das uralte Mandat des Staubes.


2. Preis

Edda Gutsche

Die Heide

Die Heide hat tausend Augen
und Adern aus Sand –
verfallene Schützengräben.
Granaten bluten unter
Katzenpfötchen und Riedgras.
Aus verflossenen Jahrzehnten
summen Geschosse wie Bienen.

Jetzt schlummert der Mittag
in den Kusseln. Der Turm
wirft einen langen Schatten,
wie ein Minutenzeiger, der
die Zeit in Intervalle teilt,
die niemand mehr zuzuordnen weiß
ob des großen Vergessens,
das nach dem Sandsturm kam.

Die Heide hat lila Augen. Lila.
Lila Braut des Septembers.


3. Preis

Joachim Gräber

Versteckt entdeckt

Gewiss, der Landstrich ist nicht arm an Reizen,
hat Fluss und Aue, Geestrand, Wald und Flur;
doch Zielort nicht von angesagter Spur,
weiß er so recht mit seinem Charme zu geizen.

Tagtäglich Trucks am Band vorüber heizen
und schwarze Ritter, schneidig in Montur,
den Blick nach vorn gerichtet, wie sie, stur,
verpassen glatt die kleinste aller Schweizen.

Indes das Abseits sich für Streuner lohnt,
wenn Landmarkt sie mit Rokoko verbinden;
es lesbar dem Gelände innewohnt

mit Grotte, Löwen, Sandsteinuhr und Linden.
Der, dem beim Gang ein Menuett erklingt,
der Tauchzug in die Zeit perfekt gelingt.


4. Preis

Carsten Rathgeber

Klärungen

Metall fällt mit Gewicht
Rotes Licht strömt wie Blut
Aus gebrochenen Spiegeln
Protest in Gesichtern
Philosophie der Täter

Nach dem Sturm, dem großen Krawall
Rauch und Geschrei hängen noch in der Luft
Beginnt mit dem Zählen der Toten
Der Betrachtung der Videos
Die Auflösung verfehlter Mythen
Die Klärung ungeklärter Sprüche
Eine Besinnung auf die Fakten

Vom Glauben ergänzt
Schwebt die Vernunft nur leise
Die Wahrheit ist nicht scheinbar
Von Gefühlen verziert
Führt das Wollen zur Reise

Jedoch die Kriege wuchern täglich
Durchziehen die Straßen
Wandern in die Herzen
Die Regen werden stärker
Der Straßenstaub wärmer
Wie Laub fällt weißes Pulver
Im Winter sprüht Feenstaub


5. Preis

Judith Schifferle

Wenn der Doppeladler uns nachspürt,
ist meine Ankunft besiegelt,
meine Umsiedlung vollbracht.
Das Kleid getauscht unter der Rotbuche
auf dem Karpatenhügel das ganze Land.

Wenn der Doppeladler die Federn stellt,
die Flügel spreizt, aber keine Beute
nach Hause bringt, sagst du:
Lass es zu, wir warten.

Wenn der Doppeladler alt ist und zusammenbricht,
erinnere ich: Unser Kreuz hält ihn am Scheitel fest.
Reißt die Schnur zwischen seinen Zehen
und unseren Handgelenken,
will er dem Tod zum Trotz
frei sein und uns höher oben binden.

Wizhenka (Ukraine), 2010/2022


6. Preis

Jakob Hagen

Träumereien

Es ist schon wieder einer dieser Tage,
den niemand kennt und niemand ganz versteht.
Der Wind hat zwischen Stirn und deinem Barte
die aufgeschob’nen Wellen glattgeweht.

Doch in dir regt sich nichts, du liegst in Stille.
Und niemand sehnt sich mehr nach Gleichgewicht.
Die rhythmische Verdichtung der Pupille.
Der Mund, der deinen Augen widerspricht.

Ich spüre nichts und niemand will es wissen.
Ein fahles Licht, das durch die Wolken singt.
Ein toter Mann, der durch den Nebel schwingt.
Ein Futternapf voll mit Gewissensbissen.


7. Preis

Jakob Hagen

Träumereien

Es ist schon wieder einer dieser Tage,
den niemand kennt und niemand ganz versteht.
Der Wind hat zwischen Stirn und deinem Barte
die aufgeschob’nen Wellen glattgeweht.

Doch in dir regt sich nichts, du liegst in Stille.
Und niemand sehnt sich mehr nach Gleichgewicht.
Die rhythmische Verdichtung der Pupille.
Der Mund, der deinen Augen widerspricht.

Ich spüre nichts und niemand will es wissen.
Ein fahles Licht, das durch die Wolken singt.
Ein toter Mann, der durch den Nebel schwingt.
Ein Futternapf voll mit Gewissensbissen.


8. Preis

Volker Teodorczyk

Heimatnähe

Kampfeslieder, frech gegrölt
Strammer Schritt und dumpfer Blick
Mittelscheitel eingeölt
Leere Dosen weggetreten
Mützen sitzen peinlich chic

Traditionen, gut gepflegt
Schwarzes Schuhwerk stramm geschnürt
Wer die Adlerfahne trägt
Darf sich kleiner Führer nennen
Tiefer Stolz, den jeder spürt

Klare Regeln, klare Sicht
Für die Zukunft, groß und weit
Weiße Haut ist zwingend Pflicht
Fehlerfreie Sätze sprechen
Sind von diesem Zwang befreit

Und der Feind ist ausgespäht
Fremde sind der Meute Ziel
Hassparolen ausgekräht
Noch vernimmt man derbes Tönen
Was bewirkt ein Wort zu viel?

„Heimat!“ wird nun laut krakeelt
Und der Angriff fällt wohl aus
Ehrengruß und durchgezählt
Man lässt ab von Zielpersonen
Trunken zieht der Mob nach Haus


9. Preis

Regina Jarisch

ich setze zug um zug

in den letzten tagen habe ich
meinen schwarzen könig verloren
vorsorglich steckte ich
den weißen könig in die tasche

heute begreife ich die alten könige
schwarz und weiß geworden mit der zeit
liegen sie matt im schattenreich
vielleicht denke ich mir

könnte es sich ändern
denn ich entwerfe etwas
auf das sich setzen lässt
für die nächsten züge

stehn die damen schon bereit
die bauern lauern verspielen felder
läufer im eifer überrennen ihr ziel
mein trumpf ist ein schimmel


10. Preis

Ingrid Ostermann

Holunderwunder

Dunkelschattiger Pfad
Fern blitzt der See
Ein Duft erst zart
Dann Glücksrausch

Dort steht er
Sonnenbestrahlt
Voll weißer Dolden
Der Holderbusch

Kleine Kirche
Aus grauem Feldstein
Einer Glucke gleich
Hütet sie Gräber

Sie wäre schmucklos
Umarmte sie nicht
Blühend und duftend
Ein Holderbusch

Grasdeich am See
Knorrige Weiden
Müde dem Wasser
Zugeneigt

Sie umfängt eine Braut
In duftendem Schleier
Jede hält ihren
Holderbusch

Folge dem Duft
In Wiese und Wald
An See und Fluss
Auf Pfaden und Straßen
Goldene Weite
Geheimnisdurchwoben
Brandenburg mein
Holunderzauberland