Die Gewinnergedichte des "Lyrikwettbewerbes 2016"



1. Preis

Alfred J. Signer

Patagonien

Schafgebeine am Fusse
des Kondorfelsens,
ausgeweidet vom Puma und
andern Aasfressern.

Blau-weiss gefärbt,
an die Pionierzeit erinnernd,
steht der alte Reisebus
windgeschützt neben
den Stallungen der
Estancia Oriental.

Unbedeutend klein
neben dem Cerro Leòn
liegt sie in der grünen Oase,
geduckt im Schutze eines Hügels.

Einzig ein ruppiges Strässchen
als Verbindung zur andern Welt.
Weit entfernt von der Ruta 40,
die wie eine Schnur die Pampa
Santa Cruz’ durchmisst.

Am 47. Breitengrad Süd
unter den Andengipfeln
darben wache Menschen,
vom Winde nicht zermürbt.

Ewiger Lauf der Dinge
verlangsamt im Takt der Jahre.


2. Preis

Helmut Glatz

Wir sind nur fremder Welten Spiegelungen

Wir sind nur fremder Welten Spiegelungen,
sind flüchtig wie des fernen Nordlichts Schein,
und unerhört, mit wilden Feuerzungen
drängen fremde Geister auf uns ein.

In immerwährender Osmose gleiten
durch das Selbst, das wir doch selbst nicht sind,
Aberbilder voller Seltsamkeiten,
oszillierend noch im Zeitenwind.

Und wenn wir dann die Dimensionen tauschen,
der Raum zur Zeit wird und die Zeit zum Raum,
wird bleiben nur ein unerhörtes Lauschen,
ein dunkler Schleier über eurem Traum.


3. Preis

Volker Teodorczyk

Was übrig bleibt

Zwölf Säcke stehen gut gefüllt
Im Flur auf Steingutstufen
Zuvorderst Bilder, unverhüllt
Die fremde Meister schufen

Ein Schneemann, sichtlich angegraut
Schaut einsam in die Runde
Und Schiffmodellen, selbst gebaut
Schlägt nun die letzte Stunde

Es liegen Bilder in schwarz-weiß
In einem Schubfachboden
So schließt sich nun ein Lebenskreis
Aus vielen Episoden

Auf Abfallsäcke reduziert
Ist hier ein Menschenleben
Es wird entsorgt, recht ungeniert
Die Schlüssel übergeben

Begrenzt ist jede Lebensfrist
Und nichts kann man vergüten
Doch völlig offen, ja das ist
Die Zahl der Abfalltüten


4. Preis

Peter Frank

Gabionen

KZ Gedenkstätte Neuengamme

Zwanzigtausend Namen,
schwarze Minuskeln auf
langen, weißen Fahnen,
die Hälfte der Toten.

Weites, flaches Gelände,
Ferne der Pappelreihen,
zitternd wie Körper,
der Zählappell,
auch die Leichen traten an.

Das Ziegelwerk,
wo Durst in den Kammern
der Kehlen brannte,
eine moderne Fabrik,
bewundert von Himmler,
hohes, stilles Gebälk,
Geruch wie in Großvaters Schuppen
in einem Sommer der Kindheit,
ein Geschichtsstudent spricht
in den von displays erleuchteten
Halbkreis einer Schulklasse.

Draußen im Septemberlicht,
unter den Zeichen der Zugvögel,
greift Wind ins Haar,
fällt Leere wie Lumpen.

Vor der Rampe,
drei rostige Loren,
darin Laub, Regen,
Ä ste wie Knochen,
weiter unten steht eine allein,
manchmal sprang eine aus dem Gleis,
Schienen, versunken im
Beton, verlegt von den
Geschundenen,
das Todeskommando.

Drei Männer in einer Koje,
der Kessel mit der Wassersuppe
in der Mitte der Baracke.

Geblieben die Steine,
Bruchstücke des hier
gebauten Gefängnisses.
Geblieben die Eichen,
rau, gegabelt,
ihre Wurzeln, letzte Zeugen
der Erde, der Asche.


5. Preis

Walter Kiesenhofer

spätherbst

die wiesen abgeträumt
über dem gänseruf turnt
mein gedanke zwischen
ersten kristallenen flocken
am erlenbaum wartet der winter

graue worte wiederholend
die großen himmelsbeeren
drüben in der stadt
zieht ein pfarrer seinen kirchturm
singend durch die strassen

in verlorenen schneckenhäusern
will man keine
fuge von bach hören
der fleischermeister ruft
seine schäfchen zusammen

erster reif setzt sich
in den irdenen krügen der bauern
die freundlichen birken
warfen lang schon
ihre wörter von sich

die kinder basteln
an ihren
zimtsternen


6. Preis

Angelika Zöllner

heimat. los

(fahrender flüchtling im zug)

er rollt – rädert
einer sich richtenden route zu
runde ruheminuten
dann dümpelt der deutschland-
schaffner in seine schweregedanken
führen sie’n fahrschein?

der flüchtling fingert vor
schaffner schüttelt schaut
schmettert: ein s-bahn-schein!
sie inseln im ICE!

lassen sie doch den poor boy,
ä chzen wir leidgerüttelt und
ich vergesse den versreim zu falten

der schaffner schüttelt ihn ab
rafft reuelos rare euros vom
fahrenden flüchtlingsvogel
deutschlastig dienstplanmäßig
ein dünkelnder demutsbeamter

wir wolln ihn nach Syrien verwandern
ins wirrgepäck der vokabeln
gegen gruseln und grieseln und grausen
nur einen flaumigen fallschirm.


7. Preis

Manfred Burba

Wir schaffen das

Von Krieg und Terror ausgezehrt
sind sie in großer Zahl,
geflohen vor Gewalt und Not
und hatten keine Wahl.

Nicht jeder nimmt sie gerne auf
bei sich, in seinem Ort,
und mancher denkt: „Das Beste ist,
man schickt sie wieder fort!“

Sie sind als Flüchtlinge im Land
ein großes Risiko,
für die Finanzen und den Staat,
für Bürger sowieso.

Ihr Schicksal ist beklagenswert,
doch kommen viel zu viel,
auch wählen sie für ihre Flucht
fast immer nur ein Ziel.
Das ist die Bundesrepublik,
sie gilt als stark und reich
und hat bereits signalisiert:
„ Kommt her, wir helfen euch!“

Mit diesem schnellen Angebot
steht sie jedoch allein,
denn Hilfe sollte einheitlich
und europäisch sein.

Ob das so bald und reibungslos
gelingt in der EU
ist fraglich, und so macht man erst
einmal die Grenzen zu.

Es litten in Europa schon,
vor gar nicht langer Zeit,
sehr viele Menschen große Not
und hofften auf Asyl und Brot
und auf Barmherzigkeit.


8. Preis

Hanna Fleiss

Petitesse

Brandroter Mohn,
ü ber die Wiesen gestreut,
und ich wünschte, du hieltest an,
wünschte, du sähest,
was ich sehe.

Aber du hinterm Lenkrad,
vor dir das Grau-in-Grau der Autobahn,
leugnest das Feuer des Mai,
lachst und beschleunigst das Tempo,
dass der Tacho ausschlägt.

Vielleicht ist es
das letzte Mal, dass ich neben
dir sitze, ich, die ewige Beifahrerin.
Vorbei, vorbei der brandrote Mohn.
Und du lachst.


9. Preis

Ralf Burnicki

Versprochene Himmel

Über Politik heißt es,
sie hätte der Zukunft
ein Stück Himmel gegeben,
doch es kommt die Zeit,
in der das Licht zurückgespult wird
und die Luft zu dünn ist
für große Versprechen.
Die Produktion bleibt
auf der Strecke, der Kreisverkehr
der Einsamkeiten nimmt zu und die
Besorgungslisten des Verstandes
werden länger. Am Ende bleibt
die Erinnerungskultur der Trinksprüche,
der Saisonbetrieb der Bekenntnisse,
die Eintagsfliege einer Umarmung
und ein Mittag, der im Park die
Schattensplitter zusammenfegt.


10. Preis

Sabine Rothemann

Tag, Nachtgleiche

Ein Silberreiher stakst in Mulden.
Auf dünnen Sohlen an einem frischen Morgen,
schleich ich samtig weich, zur Dämmerung
die Schritte zögernd schwingen,
bei Nacht erreich ich den Teich.
Sehe mich nicken. Mit festen Tritten
mich spreizen und mit breiten
Flügelschlägen mich umkreisen und dann neigen.
Mal groß, dann winzig sind mir die Dinge
die glänzenden, die glatten
in dem hellsten Schatten
der krähenschwarzen Nacht