Leseprobe

 

(1. Preis)

Günter Wirtz


Das gestohlene Christkind

(Auszug)

Mein Großvater war ein wunderbarer Mensch mit vielen Talenten, aber zwei Dinge konnte er besonders gut: schreinern und Geschichten erzählen. Unzählige Stunden verbrachte ich bei ihm in der Werkstatt. Ich sah und hörte ihm zu, ohne ein Wort zu sagen. Er hatte eine tiefe angenehme Stimme und es duftete dort herrlich nach Leim und Sägespänen.
Weihnachten war es besonders schön in der Werkstatt, denn dann bullerte der Salamanderofen und zu dem Leim- und Holzgeruch gesellte sich der Duft und Geschmack von Plätzchen und Tee.
Großvater kannte unglaublich viele Geschichten. Dabei sah ich ihn nie ein Buch lesen. Etliche hatte er von seiner Mutter und anderen Verwandten in den langen und düsteren Wintern des Krieges und der Nachkriegszeit gesammelt. Und etliche hatte er bestimmt selbst erfunden. Ich liebte sie alle, doch gab es eine, die mochte ich am allerliebsten. Und das war die Weihnachtsgeschichte vom gestohlenen Christkind, die er mir stets am 23. Dezember erzählte.
Sie handelte von David, einem achtjährigen Jungen, der mit seinen Eltern in einer Hütte am Rande einer großen Stadt lebte. Die Familie war bettelarm. Das Geld, das der Vater mit dem Sammeln von Feuerholz verdiente, reichte gerade zum Überleben. Aber eines Tages, kurz vor Weihnachten, wurde er schwer krank. Für einen Arzt reichte das Geld nicht, und ihre Not war so groß, dass David die Arbeit des Vaters übernehmen musste. Früh morgens ging er nun bei klirrender Kälte in den Wald, um dort nach Holz zu suchen, und am Nachmittag verkaufte er es auf dem Markt.
Der Heiligabend kam. Da der Vater immer noch krank war, ging die Familie ohne ihn in die Christmette. David staunte wie jedes Jahr über die Krippe, die man in der Kirche aufgebaut hatte. Ein richtiger Stall mit Stroh und einer roten Laterne, mit einem Ochsen, einem Esel und Schafen, mit Hirten und natürlich mit Maria, Josef und dem Christkind, alle aus Holz geschnitzt und in voller Lebensgröße.
Als die Messe zu Ende war, ging David zu dem Stall und betete zu dem Christkind. Er wünschte sich etwas Warmes zu essen für seine Familie, ein Weihnachtsgeschenk für sich selbst und sei es auch noch so winzig klein und unscheinbar, vor allem jedoch Gesundheit für seinen kranken Vater. Plötzlich aber schämte er sich. Wie konnte er es wagen, dieses Kind um etwas zu bitten, das ja noch weniger hatte als er! Er schlief wenigstens in einer warmen Hütte mit vier Wänden, hatte eine Hose, ein Hemd, eine zerschlissene Jacke, aber das Jesuskind hatte nur die Windeln am Leib. Wie jämmerlich musste es frieren! Während er so in Gedanken versunken war, hatte sich die Kirche geleert. David sah sich um. Noch ehe er recht wusste, was er tat, hatte er das Kind aus der Krippe genommen und unter seine Jacke gesteckt. Dann eilte er nach draußen, wo seine Mutter und seine Geschwister schon ungeduldig auf ihn warteten. Es schneite in dichten Flocken und ein kräftiger Wind blies. Alle hatten sich die Kapuzen weit über ihre Köpfe gezogen und so achtete niemand auf die ausgebeulte Jacke des Jungen.
Zuhause in der Hütte war es so kalt, dass alle sofort zu Bett gingen. David legte einige der letzten Holzscheite ins Herdfeuer, nahm das Jesuskind heimlich mit unter seine Decke und wärmte es an seiner Brust. Im Nu war er eingeschlafen.
Als er erwachte, war das Christkind verschwunden. Stattdessen lag neben ihm unter der Decke ein großer Klumpen Gold. David zeigte das Gold seinen Eltern und alle freuten sich. Und das umso mehr, da sein Vater über Nacht gesund geworden war und in dem Topf über dem Herdfeuer eine herrlich duftende Suppe köchelte. Nachdem sie ihren Hunger gestillt hatten, gingen sie in die Kirche, um Gott zu danken. Und, o Wunder, da lag das Christkind in seiner Krippe, als wäre es nie weg gewesen.
Als die Weihnachtstage vorüber waren, verkauften sie das Gold und bekamen dafür so viel Geld, dass Davids Eltern sich eine Schusterwerkstatt kaufen konnten. Und dort lebten und arbeiteten sie fortan und mussten nie wieder hungern noch frieren.
Ja, ich liebte diese Geschichte, weil sie so wunderbar war. Ein kleiner Junge wie ich, der seine Familie aus der Armut befreite, weil er so gut war und dafür so reich belohnt wurde.
Es war in dem Jahr, als ich meinen neunten Geburtstag feierte, zur Kommunion ging und zum eifrigen Ministranten wurde. Weihnachten rückte näher und somit auch der Tag, an dem mir mein Großvater die Geschichte erneut erzählte. Diesmal aber war ich so von ihr beseelt, dass ich beschloss, es David gleich zu tun.
Krank war mein Vater zwar nicht und arm konnte man uns auch nicht nennen, aber so ein Goldklumpen war eine feine Sache und überhaupt klang das doch nach einem richtigen Abenteuer. Kurz: Ich beschloss, die hölzerne Jesusfigur aus der Krippe unserer Kirche heimlich mit nach Hause zu nehmen.
Das allerdings war nicht so einfach, wie es Geschichten gerne darstellen. Oft lassen sie bestimmte Details einfach weg, z.B. dass nach der Christmette noch alle lange die Krippe umlagerten, dass es einen Küster gab, der mit Argusaugen die Leute beobachtete, dass einen die Familie nach Hause trieb.
Am Heiligabend jedenfalls ergab sich keine Gelegenheit. Auch nicht am ersten oder zweiten Weihnachtstag. Dann aber kehrte die Kirche zurück in ihren Dornröschenschlaf und ich hatte leichtes Spiel.
Es war der Samstag nach Weihnachten, als ich vormittags in die Kirche schlich und mich umschaute. Kein Ömchen, kein Küster, kein Pastor war zu sehen. Schnell ging ich zur Krippe, steckte das Christkind in meine Sporttasche und eilte nach draußen.
Zu Hause versteckte ich die Tasche unter meinem Bett und konnte gar nicht die Acht-Uhr-Nachrichten erwarten, denn das war die Zeit, in der ich immer schlafen gehen musste. Endlich war es soweit. Nachdem alle ihren Gutenachtkuss erhalten hatten, ging ich auf mein Zimmer, packte die Jesusfigur aus und legte sie in mein Bett.

[...]