Leseprobe:

 

Es ist gegen Mittag. Eine wärmende Märzsonne hat das Luch mit ihrem Licht übergossen. Wilhelm Dörbrandt ist am Ziel. Gedeckt durch ein Erlengebüsch verharrt er am Ufer der Trampe. Das Flüsschen schlängelt sich hier in anmutigen Windungen durch eine endlos scheinende Wiesenlandschaft. Von beiden Seiten münden Gräben in die Trampe. Jetzt waren sie gut zu erkennen, weil sich ihre Ränder geringfügig über die Umgebung erhoben, aber im Sommer, wenn das Gras erst hochgewachsen war, würden sie darin völlig verborgen sein. Der Alte wusste, dass es dann hier von Fröschen und Ringelnattern wimmelte. Störche würden durch die Wiesen stelzen und Bussarde unter dem Himmel ihre Kreise ziehen. Der alte Mann lässt vorsichtig den Rucksack von den Schultern gleiten. Er kauert sich an den Rand einer kleinen Böschung, die ihm zusätzlich Deckung gibt. Ein großer Vogel fliegt ziemlich nah bei seinem Versteck vorüber. An dem S-förmig gebogenem Hals erkennt Dörbrandts geübter Blick sofort, dass es sich um einen Fischreiher handelt. Doch der schwerfällige Flieger interessiert ihn heute nicht. Eine andere Erscheinung nimmt seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Dort, auf der anderen Seite der Trampe, in den tiefer gelegenen Wiesen, die nach Hakenberg hinüber reichten, erhob sich urplötzlich eine graue Barriere. Die graue Fläche dehnte sich fast bis an den Horizont.
Dörbrandt hält den Atem an. So oft hatte er dieses Naturschauspiel bereits gesehen und doch geriet er jedes Mal wieder in dessen Bann. Was sich dort auf der Wiese vor seinen Augen versammelt hatte, waren Tausende von Kranichen. Langsam hebt er den Feldstecher an die Augen, späht zu den Vögeln hinüber. An die Böschung geschmiegt, stützt Dörbrandt die Ellenbogen auf dem Rand auf und betrachtet durch das Fernglas die Ansammlung der Vögel. Schlank und anmutig jedes Exemplar, bevölkerten die Kraniche in einer kaum überschaubaren Masse die Wiese. Langsam wandert sein Blick über die riesige Schar. Er kann sich nicht satt sehen am Anblick der majestätischen Vögel. Wie gemessen und würdevoll die Bewegungen einzelner Tiere waren, wenn sie dahin schritten, wie ruhig und zugleich wachsam andere auf einer Stelle verharrten. Das Herz des alten Ornithologen schlug höher. Diese Scharen der klugen und in ihrer natürlichen Wildheit prächtigen Vögel vor Augen, war es ihm nur zu verständlich, dass große Poeten wie Schiller und Fontane Kraniche in ihren Dichtungen besungen hatten.
Dörbrandt versucht die Zahl der Vögel annähernd abzuschätzen. In der Fachliteratur tauchten seit einigen Jahren warnende Hinweise auf, dass die Population der Kraniche in Deutschland zurückginge. Immer mehr Land, insbesondere Sümpfe und Feuchtwiesen, wurde urbar gemacht, um es bestellen zu können. So schrumpfte der Lebensraum der Vögel. Doch hier, im Benkenhorster Luch, schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Bauern nutzten die riesigen Wiesen als Weideland und ernteten dort Heu. Über Pläne zur Ansiedlung von Neubauern, wie in anderen Teilen des Reiches, war Dörbrandt bislang nichts zu Ohren gekommen.
Lange beobachtet der Alte die Vögel. Zwischendurch fertigt er ein paar Notizen. Allmählich schreitet die Zeit voran. Dörbrandt verspürt Hunger. Er löst sich langsam vom Böschungsrand. Vorsichtig, jede hastige Bewegung vermeidend, zieht er sich einige Schritte zurück. Dann sucht er sich ein Plätzchen an einer Erle. Mit dem Rücken an den Baum gelehnt, den Rucksack zwischen den gespreizten Oberschenkeln, gönnt er sich eine kleine Mahlzeit. Er stellt die Thermoskanne neben sich, füllt den lauwarmen Tee in den Becher. Nun wickelt er ein Brot aus, verzehrt es mit Appetit. Zufriedenheit füllt ihn aus. Hier draußen zu sein, allein an diesem stillen Ort, nur in Nachbarschaft dieser Tausenden Vögel, gibt ihm ein Gefühl der Auserwähltheit. Ein kleiner Windstoß bringt die Zweige des Baumes in Bewegung, bläst ihm einige Strähnen seines grauen Haares in die Stirn.. Mit einer Handbewegung streicht er sie zurück. Ein wohliges Gefühl durchströmt den alten Mann. Das war das Leben, das er immer hatte leben wollen. Sein Blick schweift zu den wandernden Wolken. Zwei wilde Tauben sieht er in geringer Entfernung über das Luch flattern. Im gleichen Augenblick spürt er wieder, wie sich eine leise Traurigkeit seiner bemächtigt. Er kennt dieses Gefühl. So ist es immer, wenn er sich an Ulrich erinnert, seinen Sohn, der in flandrischer Erde ruht. Er sieht dieses Bild vor sich, wie er Ulrich auf dem Arm hält, einen dreijährigen Knaben, mit Augen so blau, wie man sie sonst nur bei Mädchen fand. Es war ein Tag Ende März, ein klarer und schöner Tag. Er war mit dem Jungen auf den Hof der Schule gelaufen, um seinem Sohn ein Storchenpaar zu zeigen, das über den Häusern kreiste, nach einem geeigneten Platz zum Nestbau Ausschau haltend. Den Mund leicht geöffnet, hatte der Kleine die Vögel angestaunt. Dörbrandt hatte mit dem Finger hinauf gezeigt: „Störche, das sind Störche, Uli“, hatte er ein ums andere Mal gerufen.
Grete, die zunächst am Fenster gestanden hatte, war aus dem Haus gekommen, hatte sich zu ihnen gesellt. Er hatte ihr den Arm um die Schulter gelegt. Sie hatte sich an ihn geschmiegt, gerührt davon, wie innig Vater und Sohn in diesem Moment einander verbunden waren. In seiner Erinnerung erschien ihm dieser Märztag manchmal als der glücklichste seines Lebens.
Mechanisch kaut der alte Mann die letzten Bissen hinunter. Gedankenverloren blickt er in die Ferne. Auch Ulrich liebte die Natur, wäre vielleicht ebenfalls Ornithologe geworden. Doch es hatte nicht sein sollen. Nein, es hatte nicht sein sollen. Der Alte wischt sich mit der Hand über die Augen. Sei nicht traurig Wilhelm, denkt er. Jeder Mensch erleidet in seinem Leben Verlust, jeder Mensch.
Wie er gegessen hat, verstaut Dörbrandt die Thermoskanne im Rucksack. Er geht noch einmal zu der Böschung, wirft durch sein Fernglas einen minutenlangen Blick auf die Kraniche. Setzt das Glas ab, schaut erneut. Dann reißt er sich mit einer innerlichen Anstrengung los von dem wundervollen Anblick. Er hat noch einen weiten Weg nach Haus.


*


Ein Hügel, draußen im Luch. Er ist kaum zwei Meter hoch und eher rund als länglich. Niemand vermochte zu sagen, welche Laune der Natur diese Erhebung in die flache Landschaft gesetzt hatte. Die Erscheinung dieser Anhöhe, umgeben von Wiesen, blieb ebenso rätselhaft, wie die schweren Feldsteine, von denen ein halbes Dutzend über die Kuppe verteilt lagen. Nirgends sonst im Luch fanden sich so große Steine. Kahl war der Hügel, von ein paar struppigen Dornbüschen, die sich an seinem Fuß an den Boden krallten und einer krummen Kiefer abgesehen. Die Kiefer wuchs schräg an der Westseite der Erhebung aus der Erde und ihre hängenden Zweige berührten im Sommer beinahe das Gras. Das ist der Hundeberg.
Nur selten kamen Leute hierher. Die meisten Dörfler machten einen Bogen um die Anhöhe. Wer daran vorbei kam, vermied es, hier eine Rast einzulegen. Zu trostlos, ja unheimlich, wirkte dieser Hügel, der nicht zu seiner Umgebung passen wollte. In Benkenhorst und auch in den Nachbardörfern kannten schon die Kinder die Geschichten, die über den Hundeberg erzählt wurden. Während des Dreißigjährigen Krieges wälzte sich das Heer der Kaiserlichen, eine Spur der Verwüstung hinter sich lassend, durch das Strieglower Land. Die Dörfer mit ihrer protestantischen Bevölkerung wurden niedergebrannt. Wer nicht fliehen konnte, starb eines elenden Todes. Für die Soldaten ihrer katholischen Majestät waren die Ketzer nur Sand, auf den sie traten. In jener Zeit, da die Welt unterzugehen schien, hätten aus den gebrandschatzten Dörfern stammende, herrenlose Hunde ein Rudel gebildet, hieß es. Tagsüber dösten sie in Höhlen, die sie sich unter den Steinen gegraben hatten. Doch abends, mit Beginn der Dämmerung, brachen die ausgehungerten Tiere auf, um zwischen den Ruinen der Ansiedelungen nach fressbarem zu stöbern.
Sie hetzten das Wild, rissen verirrte Schafe oder Rinder und machten bald auch Jagd auf einzelne Menschen, die sich im Luch vor den marodierenden Landsknechten versteckten. Ihr Leittier sollte ein riesiger Köter gewesen sein, schwarz wie die Nacht. Ein Rüde mit fürchterlichem Gebiss und böse funkelnden, gelben Augen. Alte Leute erzählten, der Luchhund treibe immer noch sein Unwesen. Irgendwo unter den Steinen kauere er, in einer tiefen Höhle. Nur selten verlasse er sein Versteck. In mondlosen, pechschwarzen Nächten dringe manchmal sein wolfsähnliches Geheul aus den Wiesen herüber. Einige alte Weiber wollten es im Spätherbst gehört haben. Es gehe einem durch Mark und Bein, berichteten sie. Manche meinten, das Tier rufe nach seinen Gefährten, die es vermisse. Andere glaubten, der Luchhund kündige den Menschen Rache an. Denn als die wilden Köter zu einer großen Plage geworden waren, hätten die Bauern Fallgruben ausgehoben, in die viele der Tiere gestürzt seien, um dann elend darin umzukommen In bösen Zeiten , hieß es, würde der Luchhund sein Versteck verlassen, um die Dörfer heimzusuchen. Die Jüngeren lachten zwar über die Erzählungen der alten Leute. Doch wenn sie während der Heuernte in die Nähe des Hundeberges kamen,. hielten sie sich in respektvoller Entfernung. Die Leute redeten, dass sich tagsüber auf den Steinen Schlangen sonnten. Fledermäuse sollten den Hundeberg in der Dämmerung umschwirren. Der Ort galt Vielen als nicht geheuer. Und Mütter warnten ihre Kinder davor, sich dort herumzutreiben.
Vor dem Hundeberg zog sich ein schmales Wäldchen durch die Wiesen, der Hosenträger genannt Zwischen dem Hundeberg und dem Hosenträger schlängelte sich ein Graben.
Am Rande dieses Grabens, einen Steinwurf vom Hundeberg entfernt, liegen die SA-Männer Schimmelpfennig und Müller auf einer gefleckten Zeltbahn und beobachten das Gelände. Konrad Müller kaut missmutig auf einem Halm trockenen Grases. Die Zeit wird ihm lang. Er blickt wieder hinüber zu dem Wäldchen auf der anderen Seite des Grabens. Kiefern mischten sich dort mit Birken und Pappeln. Ein umgestürzter Baum deckt die beiden SA-Leute. Hell schimmernd fällt der rindenlose Stamm quer über den Graben. An seinem unteren Ende ragen einige abgerissene Wurzeln wie gekrümmte Schlangen in die Luft.
Seit quälenden zwei Stunden wartet Müller darauf, dass der Feind erscheinen mag. Probehalber hat er schon einige Male seinen Karabiner auf den Stamm gelegt und verschiedene Ziele am Waldrand aufs Korn genommen. Dort, hinter der Kiefer etwa, da könnte der Feind lauern oder von weiter links, das mannshohe Gehölz nutzend, könnte er sich heranpirschen. Vielleicht ist er auch so schlau und schickt einen Mann in eine Baumkrone, damit er mit dem Fernglas Ausschau hält. Dann könnten er und sein Kamerad längst entdeckt sein. Fast wäre Müller froh, wenn es so wäre. Er hat für heute den Spaß an der Übung verloren. „Vielleicht hat sich Heinrich .mit seiner Gruppe im Luch verirrt“, er blickt grinsend zu seinem Rottenführer. Schimmelpfennig, würdigt Müller nur eines kurzen, mitleidigen Blickes: „Das glaubst du selber nicht“, stellt er trocken fest. „Nee“, stimmt ihm Müller zu, seine meckernde Stimme zieht das Wort absichtlich in die Länge. „Wäre ja wohl zu schön, um wahr zu sein“. Schimmelpfennig grient: „Kämpfer Müller, reden sie gefälligst nicht so respektlos von ihrem Vorgesetzten.“ Nun ist es an Müller zu feixen. Dass der andere auf die Flachserei eingegangen ist, beweist ihm, dass er den richtigen Ton getroffen hat. „Wenn der heute noch mal hier ankommt, fresse ich einen Besenstiel.“ Demonstrativ lehnt sich Müller mit dem Rücken gegen den Stamm. Er sitzt jetzt auf dem Boden, die Beine angewinkelt, die Knie etwas nach außen gerichtet. Sein Blick fällt auf die dreckverschmierten Stiefel. Da wird er lange wichsen müssen, bis die wieder glänzen. „Ich könnt einen Besenstiel fressen“, wiederholt Müller. Schimmelpfennig mustert seinen Kameraden mit der jovialen Gelassenheit eines Vorgesetzten, der weiß, dass er sich auch Mal eine Kumpelhaftigkeit leisten kann, ohne dass es ihn seine Autorität kosten wird. „Spendier uns man lieber einen Schluck aus der Pulle.“
Müllers Mund verzieht sich zu einem breiten Grinsen. Dann spitzt er urplötzlich die Lippen, und spuckt den Grashalm aus. Die rechte Hand an den Mützenschirm führend, ahmt er eine militärische Ehrenbezeugung nach. „Wenn das ein Befehl ist...“. Schimmelpfennig grient nur wie der andere in den Stiefel greift und eine flache Flasche herauszieht. Eine weißtrübe Flüssigkeit füllt sie, allerdings nicht mehr ganz. Schimmelpfennig stellt es mit Gleichmut fest. Müller wäre nicht Müller, wenn er nicht schon unter irgendeinem Vorwand, sei es die Verrichtung einer Notdurft, eine Gelegenheit gefunden hätte, um sich einen tüchtigen Schluck zu genehmigen. Jetzt reicht ihm der Kleine die Buddel. In seinem Frettchengesicht leuchten die Augen gierig auf. Schimmelpfennig schraubt den Deckel ab, hält die Flasche einen Augenblick prüfend gegen das Sonnenlicht.
„Kotzfusel was?“, stellt er trocken fest. „Haste auch nicht reingepisst?“ Müllers Grinsen gefriert für einen Moment. Er weiß nur zu gut, wo die Anspielung herrührt. Vor Jahren zog ein heruntergekommener Jude durch die Dörfer, der alte Boll genannt. Ein immer leicht besoffener, schlampiger Kerl, der sich nur mühsam über Wasser hielt. Als Boll an einem Freitag mit seinem Fuhrwerk voller Tand nach Benkenhorst kam, waren sie gerade dabei, beim Pötter Selbstgebrannten zu probieren. Da hatte er die Idee gehabt, dem Händler einen Streich zu spielen. Er hatte sich von Pötter eine leere Flasche geben lassen, in die er pisste, um dann Schnaps darauf zu gießen. Dann hatten sie Boll zum Trinken eingeladen und ihm die Pulle angeboten. Der Händler war zunächst, solcher Einladungen ungewohnt, misstrauisch gewesen, hatte schließlich, nach einigem Zureden, aber doch die Flasche angesetzt und einen satten Hieb genommen. Sie hatten damals gewiehert vor Lachen.
Die Geschichte sprach sich herum. Und einige Tage danach hatte Emilie Wagenbach, als sie auf der Straße einander zufällig begegneten, wortlos vor ihm ausgespuckt. Dann war sie, den Kopf trotzig in den Nacken geworfen, weitergegangen. Das soll sich das Luder heute noch mal wagen, geht es Müller durch den Kopf, das soll die sich wagen, wenn ich in Uniform bin.
Schimmelpfennig streicht mit der Hand über den Flaschenrand. „Prost“. Gluckernd schüttet er sich das Gesöff in die Kehle. Er setzt die Flasche ab, wischt sich mit dem Handrücken über die Lippen. Er verzieht das Gesicht, als habe er in eine Zwiebel gebissen. Die Augen tränen ihm. „Sag ich doch, Kotzfusel und außerdem auch noch warm“, nörgelt der Rottenführer. Der andere lässt sich jetzt die Flasche geben, wischt noch einmal mit der Hand über den Rand hinweg und setzt sie an den Mund. Als Müller in großen Schlucken trinkt, hüpft sein Adamsapfel auf und nieder. Er atmet hörbar aus, als er die Pulle, deren Inhalt sich beachtlich gemindert hat, absetzt. Der alte Säufer spürt, wie ihm der Schnaps durch die Eingeweide rinnt. Eine wohlige Wärme durchströmt ihn. Er blinzelt in die Sonne. Ihm kommt die Idee, dass er heute Abend, wenn die Übung erst vorbei ist und er zu Hause sein Abendbrot hinuntergewürgt hat, noch bei Schultz einkehren könnte. Pötter würde bestimmt da sein und einige andere, die immer Lust auf ein Kartenspiel hatten. Müller klopft mit der Hand an den Kolben des Karabiners. So, jetzt soll der Feind mal kommen. Dann würde er die mit Patronen gefüllte Kammer seiner Waffe leer schießen. Weit über die Köpfe der Kameraden würde er die Kugeln in das Blau des Himmels jagen.
Doch wo blieb der Feind? Weit und breit war nichts zu sehen von einem Spähtrupp, der sich anpirschte. Müller stößt Schimmelpfennig mit der Stiefelspitze an. „Walter, soll ich Mal eine Kugel verballern, damit die uns finden?“ Doch der Rottenführer tippt mit dem Finger an die Stirn. „Bist wohl verrückt geworden, was?“ Müller merkt, dass er zu weit gegangen ist. „Sollte doch nur Mal n‘ Scherz sein.“ Zugleich wurmt ihn, dass der andere jetzt glauben könnte, ihm sei der Schnaps zu Kopf gestiegen. So ein bisschen Kartoffelschnaps, der reichte ja gerade Mal um die Därme anzuwärmen. Gelangweilt beginnt Müller ein Lied zu pfeifen. Doch er lässt es wieder sein, als er. den missbilligenden Blick seines Vorgesetzten bemerkt. Der Kopf sinkt ihm auf die Brust, er beginnt ein .wenig zu dösen.
„Scheiße, was ist denn hier los?“ Müller fährt, wie er seinen Vorgesetzten fluchen hört, aus dem Halbschlaf hoch. Was ist passiert, fragen seine Augen. Schimmelpfennig hat sich auf die Knie niedergelassen. Sein kleines Fernglas richtet er auf einen Punkt am Waldrand. „Das ist doch nicht zu fassen“, schimpft er. Dann tauscht er einen Blick mit dem Kameraden, bevor er ihm das Fernglas reicht. „Schau mal da drüben“, sagt er, „links von der Birke.“
Müller setzt das Glas an die Augen. Bäume, Sträucher, ein Stück Waldweg tauchen vor ihm auf. Und dann hat er plötzlich die Gestalt. im Blickfeld. Eine gebückte, gedrungene Gestalt ist es, die dort, auf einen Stock gestützt, am Waldrand entlang stapft. Umrahmt von einem dicken, wollenen Kopftuch erscheint ihr Gesicht fast rund. Eine lange, dunkelgraue Männerjacke fällt der Frau weit über die Hüften. Ein langer Rock von unbestimmbarer Farbe quillt unter der Jacke hervor, und reicht fast bis auf die Stiefelspitzen hinunter. Müller stößt unwillkürlich einen kurzen Pfiff aus. „Was hat das Aas hier zu suchen?“
Schimmelpfennig hebt die Schultern. „Die kraucht doch immer irgendwo rum.“ Müller schaut zu seinem Vorgesetzten. Kalter Hass spiegelt sich in den Augen des Rottenführers.
„Fehlt bloß noch, dass das Luder uns hier findet“, murmelt Schimmelpfennig, während er den Feldstecher erneut ansetzt. „Wie werden wir die blöde Kuh dann wieder los?“
Kuh, Kuh klingt es in Müllers Ohren nach. Kuh…sein träger Verstand nimmt das Wort auf. Ein Gedanke, ein Groll meldet sich. Die Kuh von Holtkamp war notgeschlachtet worden. Verhext worden war das Tier. Im Deutschen Haus hatten sie es erzählt. Müller saß am Tisch, als der junge Sawadski die Neuigkeit auspackte, dass der Holtkamp es seinem Vater erzählt habe, dass die Haider sich im Stall herumgetrieben hatte, nachts. Danach war dem Holtkamp die beste Kuh krank geworden.
Man sollte der Kanaille das Dach über dem Kopf anstecken. Müller ist verwundert, weshalb ihm dieser Gedanke nicht schon am Abend im Deutschen Haus kam. Doch da meldet sich bereits die nächste Idee.
„Wenn ich der jetzt eine blaue Bohne um die Ohren fliegen lasse, setzt die sich vor Schreck auf den Arsch.“ Unwillkürlich muss Müller glucksend lachen. Da würde er heute Abend bei Schultz was zu erzählen haben, wie sie der alten Schuchtel einen gehörigen Schrecken eingejagt haben. „Mensch Walter, gönn uns den Spaß.“ Müller schiebt den K 98 ein Stück nach vorn und nimmt die Gestalt am Waldrand ins Visier. Er zieht den Kolben der Waffe an die Wange und blickt über Kimme und Korn. Der Lauf des Gewehrs richtet sich auf den Oberkörper der Frau. Er drückt den Körper gegen den Stamm. Sein Finger wandert zum Abzug. Plötzlich packt ihn Jagdfieber. Das Blut pulst ihm in den Schläfen. Jetzt bleibt das Weib auf einmal stehen. Anni Haider hat den Kopf gehoben, dreht sich mit dem Oberkörper, um sich umzuschauen. Was konnte die Aufmerksamkeit der Alten erregt haben? Hatte sie die Kameraden bemerkt?
Und dann kam es zunächst als Ahnung über ihn. Saltzer und Heinrich führten ihre Leute heran. Als kleine, braune Punkte erschienen die SA-Männer vor dem Horizont. Müller fühlt eine langsam wachsende Wut gegen die plumpe Gestalt, die da auf dem Weg verharrt. Es liegt für ihn eine Herausforderung darin dass dieses nichtsnutzige Weib hier plötzlich auf der Bildfläche erschienen ist. Die Wiese und der Wald, alles Land im Umkreis von mehreren Kilometern, war jetzt Übungsgelände. Gelände, das er und seine Kameraden beanspruchten. Die Ahnungslosigkeit, mit der die Frau am Waldrand entlang tapste, reizte ihn. Aber, was hieß Frau. Die Person, die sich da langsam auf ihr Versteck zu bewegte, hatte keine Familie, besaß kein ordentliches Zuhause. Jetzt trampelte dieses Weib hier wie ein Stück Wild durch das Luch.
„Ich könnte dem Luder eine verpletten.“ Müller legt seinen Daumen an den Hebel, mit dem das Gewehr entsichert wird. Seine Iltisaugen heften sich wie Magneten an die Umrisse der schwerfälligen Gestalt dort am Waldrand. Und dann fühlt er Schimmelpfennigs Hand auf der Schulter. Eine große, kräftige Hand. Der andere sagt nichts. Doch am Druck der Finger, die sich um seine Schulter schließen, spürt Müller das stille Einverständnis seines Vorgesetzten. Ein Ruck geht durch seinen Körper, die Muskeln straffen sich. Er hält den Atem an, während er zielt. Er hat das oft genug geübt, hat manchen Pappkameraden durchlöchert. Doch das hier ist etwas anderes Er spürt das Kribbeln, das über seine Arme kriecht. Mit einer Bewegung des Daumens legt Müller den Sicherungshebel am Karabiner um. Er muss jetzt nur noch den Zeigefinger krümmen. Er zieht den Abzug bis zum Druckpunkt zurück. Vor seinem zielenden Auge erscheint die dunkelgraue Jacke als deutlich sichtbare Fläche. Für eine Sekunde steht der Atem des SA-Mannes still. Jetzt muss er nur noch den Zeigefinger krümmen. Da kommt der Knall.
Die Gestalt auf dem Weg verharrt für einen Moment wie angewurzelt, als habe sie ein elektrischer Schlag getroffen. Es sieht aus, als wolle sie die Arme empor reißen. Doch dies gelingt ihr nur bis zur Schulterhöhe, dann sinkt der untersetzte Körper zur Seite. Als ob ein Sack Kartoffeln umkippt, geht es Müller durch den Sinn. Im gleichen Moment ist er erstaunt, dass er überhaupt etwas denkt, in diesem Augenblick. Zwei wilde Tauben stieben aus einer Baumkrone davon.
Der SA-Mann hebt den Kopf, stützt die linke Hand auf den Stamm. Sein Kamerad ist aufgestanden. Schimmelpfennig nimmt das Fernglas vor die Augen. Die Gestalt liegt am Wegrand. Der Rottenführer kann keine Bewegung feststellen. „Sauberer Schuss“, sagt er mit trockener Sachlichkeit. Erst in dem Moment, als der Knall die Stille zerriss, wurde sich Schimmelpfennig urplötzlich der Befürchtung bewusst, das Weib könnte nicht richtig getroffen werden, würde vielleicht zu Schreien anfangen, sich am Boden wälzen.. Vielleicht wäre er dann gezwungen, der alten Hexe mit seiner Null Acht den Fangschuss zu geben. Er ist erleichtert, dass alles dies nicht eintritt.. Dann gehen Schimmelpfennig und Müller zu der Gestalt, die sich als ein hingestrecktes Etwas vom Boden abhebt. Neben dem Leichnam bleiben sie stehen.
Anni Haider liegt auf der Seite. Der rechte Arm ist unnatürlich unter dem Körper begraben, der andere ist angewinkelt. Es sieht aus, als habe die Hand noch nach der Wunde greifen wollen, um das entweichende Leben fest zu halten. Müller nimmt sein Gewehr, drückt den Kolben gegen die Schulter der Frau, damit der Körper auf dem Rücken zum Liegen kommt. Er muss einige Kraft aufwenden, bevor er den Leichnam in die gewünschte Lage bekommt. Wie ein Torso liegt der Körper der untersetzten Frau auf der Erde. Kopf und Beine wollen nicht zu der Lage ihres Leibes passen. Nachdem Müller den Leichnam auf den Rücken gewälzt hat, liegt der Kopf immer noch seitlich auf dem Boden. Schimmelpfennig, schiebt die Stiefelspitze unter das Kinn, dreht so mit dem Fuß das Gesicht der Frau nach oben. Mit großen, weit aufgerissenen Augen starrt ihn die Tote an. Auch der Mund klafft offen, als wolle er noch einen Schrei formen. Unter der hochgezogenen Oberlippe erscheint eine Reihe kräftiger, gelber Zähne. Wie bei einem Gaul, denkt der Rottenführer. Auf der Brust hat sich rund um ein kleines Loch in der Jacke ein Blutfleck gebildet, der langsam weiter wächst. Müller hebt plötzlich die Hand vor die Augen, um sie vor dem Sonnenlicht zu schirmen. Wie Schimmelpfennig den Weg hinunter schaut, sieht er seine Kameraden. Die Männer hatten zwei Schützenketten gebildet. Saltzer führte die erste und Heinrich die zweite Formation. Jetzt kommen sie rasch näher, etwas verstört von dem plötzlich lospeitschendem Schuss. Als die Männer heran sind, scharen sie sich um den Leichnam.
Saltzer, nachdem er den toten Körper mit ruhiger Neugier inspizierte, wendet sich zu Schimmelpfennig. „Rottenführer, wie ist das hier passiert?“ Schimmelpfennig strafft den Oberkörper. „Das Luder lief in unsere Schussbahn.“ Er spricht die Worte mit der Gelassenheit eines Mannes, der sich seiner Sache sicher ist. „Schütze Müller hat gefeuert“, setzt er hinzu und sein Ton sagt: Das ist nun nicht mehr zu ändern. Saltzer schickt einen langen Blick zu Müller. „Wie viel hast du denn gesoffen?“, fragt er. Winzige Kerben in seinen Mundwinkeln verraten Ironie. Doch ohne die Antwort abzuwarten, wendet er sich wieder Schimmelpfennig zu. „Ihr Idioten, kann man euch nicht für ein paar Stunden allein lassen, ohne dass ihr jemanden umlegt?“ Dann beugt sich der Hundertschaftsführer zu der leblosen Gestalt hinunter. Mit dem Zeige- und dem Mittelfinger berührt er flüchtig die Wunde. „Lungendurchschuss“, stellt er fest.
„Wir haben außer dem Schuss nichts gehört. Ich meine, keinen Schrei oder so was“, Bernhard Heinrich, sagt es mit einem leichten Anflug von Verwunderung in der Stimme. Im nächsten Augenblick bereits bereut er seine Worte. Seine Kameraden, das waren ausnahmslos Leute vom Lande. Er war ein Städter. In den Augen dieser Männer, fürchtete er, könnte er rasch zum Weichling werden.
„Die hat nicht mal gepiepst“, brüstet sich Schimmelpfennig. „Kann uns das in Schwierigkeiten bringen, Richard?“ Heinrich blickt den Kommandeur fragend an. Saltzer holt Luft, bläst sie durch die gespitzten Lippen. Sein Schädel nickt. „Gute Frage, hat euch jemand gesehen?“
Schimmelpfennig. schüttelt den Kopf. „Hier lässt sich doch keine Sau blicken.“ Bernhard Heinrich dreht sich nach dem Leichnam um. Bruno Hasselbach hat sich gerade hinunter gebeugt und der toten Frau die Augen zugedrückt. „Jedenfalls können wir sie hier nicht liegen lassen“, Heinrich gibt sich Mühe, seine Stimme gleichmütig klingen zu lassen. Er will kaltblütig erscheinen. Unwillkürlich greift seine Hand um das Koppel. Die soldatische Geste soll Standhaftigkeit ausdrücken. Saltzer nickt. „Rottenführer zu mir.“ Gefolgt von seinen Unterführern, schreitet Saltzer einige Schritte auf dem Weg zurück. Als ein gewisser Abstand zum Pulk der Männer erreicht ist, die sich um den Leichnam geschart haben, bleibt er stehen. Saltzer holt die Zigarettenschachtel aus der Seitentasche seiner Uniform, bietet seinen Leuten zu Rauchen an. „Kameraden, wollen wir die Sache als Unfall melden oder lassen wir das Luder verschwinden und verlieren kein Wort darüber“. Prüfend schaut er in die Gesichter. Neben Schimmelpfennig stehen die anderen beiden Rottenführer, Willi Bachmann und Otto Wöhlert, der Görsdorfer. Bachmann, ein langer, blondschopfiger Kerl mit Sommersprossen auf der hohen Nase, blickt nahezu bewegungslos auf seinen Hundertschaftsführer. Er ist ein Haudegen und gewohnt, Befehle auszuführen. Entscheidungen zu treffen. überlässt er lieber anderen. Wöhlert, kaum mittelgroß, drahtig, redet, die Worte mit eckigen Gesten seiner schmalen, knochigen Hände unterstreichend. „Wir haben hier 61 Kameraden dabei. Ich glaub nicht, dass alle die Schnauze halten. Irgendwann kommt es raus, Richard. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, aber irgendwann kommt es raus “ Saltzer nickt. „Also entscheiden wir uns für Unfall?“ Bachmann zuckt die Schultern, Schimmelpfennig blickt gleichgültig auf seinen Vorgesetzten. Auf Bernhard Heinrichs Stirn zeigt sich eine Falte, ein Zeichen dafür, dass er angestrengt nachdenkt. „Dann müssen wir den Leichnam ins Dorf schaffen, das wird viel Aufregung geben.“ Saltzer nickt. „Schon richtig, Bernhard, aber ich denk auch, dass Otto Recht hat, die Sache hier bleibt nicht unter uns. Zu viele wissen davon.“
„Ich will keinem Kameraden misstrauen“, wendet sich Wöhlert an Heinrich und seine rechte Hand vollführt eine bedauernde Bewegung. „Wir sind alle SA-Leute von echtem Schrot und Korn, aber wenn so viele davon wissen, kommt es raus. Es braucht doch nur einer im Suff zu quatschen. Dann wird man uns fragen, warum wir es nicht gleich gemeldet haben.“. Heinrich reibt sich mit der Hand am Kinn. „Ich denke, es gibt eine andere Möglichkeit. Es muss eine andere Möglichkeit geben“, setzt er mit einigem Nachdruck hinzu. „Wir werden die hier vergraben und dann regeln wir die Sache über die Partei.“ Saltzer blickt seinen Untergebenen fest an. „Du denkst, das geht?“ Heinrich begegnet dem forschendem Blick des Kommandeurs mit ruhiger Gelassenheit. „Wir schalten die Kreisleitung ein. – Rogalla“.
Der Hundertschaftsführer benötigt einige Sekunden, um nachzudenken. Dann klopft er seinem Stellvertreter auf die Schulter. Er blickt in die Runde. „Hat jemand eine bessere Idee?“ Einen Augenblick später legt Saltzer fest: „So machen wir es.“ Dann wendet sich der Kommandeur seinen Leuten zu. Die stehen grüppchenweise um die Tote herum. „Hört auf zu gaffen. Los, wickelt sie in eine Zeltbahn und dann weg damit.“ Saltzer ist wieder der kaltblütige Kommandeur, der er immer sein wollte. Seine Stimme, eine klare, kraftvolle Kommandeursstimme, bringt augenblicklich Bewegung in die Männer. Schimmelpfennig weist er an, die Tote zu vergraben. „Los Walter, hebt beim Hundeberg eine Grube aus. Wenn ihr irgendwo ein paar Steine findet, legt sie drauf. Dann kommt der Fuchs nicht ran.“


*


Margarethe Dörbrandt fährt der Schreck in die Glieder, wie sie ihrem Mann die Tür öffnet. Aschfahl sieht Wilhelm aus. Schweigend kommt er in den Flur, wuchtet den Rucksack von den Schultern. Dann schlurft er in die Küche und sackt dort auf einen Stuhl. Sie mustert ihn mit einem langen Blick. Dann kniet sie sich schweigend vor ihn, um seine Stiefel auszuziehen. Margarethe mochte das sonst nicht. Es hatte sie immer befremdet, wenn sie gelegentlich gesehen hatte, wie eine Bäuerin ihrem Mann die Knobelbecher von den Füßen zog. Doch jetzt ging es Wilhelm schlecht. Krank sah er aus, krank und verstört. Die Frau umklammert mit ihren Händen einen Stiefel, zieht und zottelt, bis sie ihn vom Fuß hat. Tief Luft holend, muss sie einen Moment verschnaufen, bevor sie sich den anderen vornehmen kann. Besorgt blickt sie ihren Mann an „Bist du krank, du siehst so blass aus?“ Er schaut sie mit großen Augen an, doch sein Blick. scheint durch sie hindurch zu gehen, als sei ihr Mann mit seinen Gedanken woanders. „Ist denn was passiert?“, flüstert sie und plötzlich fühlt Margarethe Angst. Sie weiß nicht warum und wovor sie sich fürchtet, doch mit dem Instinkt eines verfolgten Tieres spürt sie, dass mit dem Moment, da ihr Mann durch die Tür trat, auch etwas anderes, unheilvolles die Schwelle ihres Hauses übertreten hatte: sie spürte Gefahr.
„Mein Gott, Wilhelm, sag doch was los ist“. Der ringt offensichtlich mit sich. „Lass uns erst ins Wohnzimmer gehen.“ Die Stimme. des Alten klingt heiser, wie er die Worte hervorstößt. Margarethe nimmt sich den anderen Stiefel vor. Hochrot im Gesicht von der Anstrengung hat sie ihn schließlich vom Fuß ihres Mannes gezogen. Schwerfällig steht sie vom Boden auf. Auch Wilhelm kostet es Anstrengung, sich vom Stuhl zu erheben. Er geht auf Socken in den Flur und holt sich aus dem kleinen Regal nahe der Tür seine Pantoffeln. Dann schlurft er ins Wohnzimmer. Dort lässt er sich schwer atmend auf dem Chaiselongue nieder. Die Hände im Schoß gefaltet, sitzt er, den Oberkörper gerade aufgerichtet und starrt ins Leere. Margarethe zieht sich auch einen Stuhl heran, setzt sich ihrem Mann gegenüber. Sie hat die Arme ineinander verschränkt, blickt mit ängstlichen Augen auf ihren Gatten. Der scheint mit seinen Gedanken weit weg zu sein.
Doch plötzlich strafft sich sein Oberkörper. Seiner Frau fest in die Augen schauend, sagt er mit tonloser Stimme: „Sie haben Anni Haider erschossen. Die SA...“, er bricht ab. Margarethe reißt ihre Hände hoch und presst sie auf den Mund, als müsste sie gleich schreien. Doch kein Ton entringt sich ihrer Kehle. Sie starrt nur mit Schreck geweiteten Augen auf ihren Mann. Der holt tief Luft. Dann plötzlich, sich mit der Hand auf die Tischkante stützend, steht er von seinem Stuhl auf. Er wendet sich zum Wohnzimmerschrank, kehrt mit einem kleinen Schnapsglas und einer Flasche Magenbitter an den Tisch zurück. Wilhelm schüttet im Stehen den Likör hinunter. Er setzt sich wieder, beginnt zu erzählen. „Es war beim Hundeberg“, sagt er. Er sei auf dem Heimweg gewesen. Da habe er plötzlich den Schuss gehört. Kein Schuss aus einer Jagdflinte, sondern aus einem Karabiner. Er sei wie angewurzelt stehen geblieben. Dann, nach Augenblicken bangen Wartens, aber vorsichtig weiter gegangen. Er vermutete einen Wilddieb. Hinter einer leichten Wegbiegung habe er plötzlich gesehen, wie SA-Leute sich zu einer Gestalt hinunter beugten, die am Boden lag. Instinktiv habe er Deckung hinter einem Weidengebüsch gesucht, das auf der Böschung wuchs, die sich neben einem Graben erhob. Er habe dann durch den Feldstecher geschaut. „Schimmelpfennig und Müller standen da. Ich sah, das diese Gestalt ein Kopftuch trug und dachte: Mein Gott, das ist ja eine Frau. Und dann begriff ich, das es die Anni Haider sein musste.“ Und mit leiser Stimme fügt er wie zu sich selbst hinzu: „Welche Frau geht sonst schon allein ins Luch.“ Er habe sich dann gefragt, ob die Anni tot sei. „Ich sah, wie Schimmelpfennig und Müller den Körper umdrehten. Die Haider machte keine Bewegung mehr. Sie war tot.“
Dörbrandt hält inne. Er reibt sich mit der Hand das Kinn, die Wange, als brauche er einen Augenblick, um die Szene wieder vor seinem inneren Auge abrollen zu lassen. Gefasst setzt er seinen Bericht fort. „Dann waren die anderen, die ganze Hundertschaft der SA zur Stelle, Heinrich und Saltzer an der Spitze“. Die standen um die Tote herum, redeten, gestikulierten. Schließlich habe er gesehen, wie sie den Leichnam zur Seite schleiften. Einige Männer hätten damit begonnen, eine Grube auszuheben. Ein SA-Mann habe sich von den anderen gelöst, sei ihm auf dem Weg entgegen gekommen. Da sei es höchste Zeit geworden, das Weite zu suchen. Er habe sich, die Böschung als Deckung nutzend, hinter die Wegbiegung zurückgezogen. Dann sei er in einem großen Bogen durch die Luchwiesen gelaufen, um auf die Rückseite des Hosenträgers, des kleinen Wäldchens beim Hundeberg, zu kommen. Er sei immer darauf bedacht gewesen, nicht auf die SA zu treffen. „Bloß jetzt nicht denen in die Arme laufen, bloß jetzt nicht, das war alles, woran ich denken konnte.“ Dörbrandt atmet schwer, streicht sich mit der Hand über die Stirn.
„Mein Gott, meinst du nicht, dass da ein Unfall passiert ist.“ Margarethe, die ihren Mann bang anblickt, wird ganz kalt, als er mit ruhiger, tonloser Stimme sagt: „Danach sah es nicht aus.“ Wilhelm schüttelt den Kopf. „Ich glaube, sie haben sie absichtlich erschossen. Wie sie mit der Toten umgingen, von Bestürzung war nichts zu merken. “ Dörbrandt sieht, wie das Gesicht seiner Frau bleich wird. „Aber...“, sie ringt nach Worten, „wenn es so.., ich meine, wenn sie es absichtlich taten,... Wilhelm, das kann doch nicht sein. Das wäre ja Mord.“ Margarethe möchte den Kopf schütteln, will ihrem Mann sagen, dies sei unmöglich, absolut unmöglich. Doch sie muss nur in seine grauen Augen sehen und die Kehle ist ihr wie zugeschnürt. Die Bestimmtheit, die in seinem Blick liegt, sagt ihr, dass es so sein muss. „Mein Gott...“ Sie presst die Hände gegen die Wangen. „Was wirst du nun tun?“ Mit leiser, aber klarer Stimme sagt der Alte: „Ich weiß es nicht.“


5


Im großen Saal des Schlosses auf Gut Hohenlohe drängen sich die Geburtstagsgäste der Baronin Freya von Brockdorff, geborene von Thalheim. Die farbenprächtigen Roben der Damen spiegeln sich im blitzblanken Parkett. Es funkeln die Geschmeide, es glänzen Gold und Silber. Parfüms, die in Paris kreiert wurden, betören die Sinne mit exotischen Düften. Zwischen den Gästen huschen die Mägde umher, Tabletts balancierend, beladen mit Champagnergläsern. Wohlgefällig blickt Baron Leopold von Brockdorff auf das Dienstmädchen, das leicht errötend, an ihn herantritt, offensichtlich einem Hinweis von Emilie Wagenbach folgend. Wie niedlich, dieses zarte Gesicht mit den kastanienbraunen Augen. Der Baron nimmt zwei Gläser vom Tablett reicht eines an seine Gattin weiter. Die Umstehenden greifen zu. Als das Tablett leer ist, zieht sich das Mädchen, nachdem es einen Knicks andeutete, offensichtlich erleichtert zurück. Der Baron muss in sich hinein lächeln. Reizendes Kind, noch schüchtern, da er das Mädchen nicht kennt, muss es sich um eine Aushilfskraft handeln. Er schaut ihr einen Moment hinterher, wie sie im Gedränge der Gäste verschwindet. Eine schlanke Gestalt, die an den anderen behende vorbeischlüpft. Auf dem kastanienbraunen Haar wippt eine schneeweiße Schleife.
Der Baron wendet sich seiner Gemahlin zu. Freya von Brockdorff steht, schlank und schön, wie eine dorische Säule an der Seite ihres Gatten. Sie trägt ein langwallendes Kleid aus dunkelgrüner Seide, von einem Maßschneider in Berlin für diesen Tag gefertigt. Auf dem Ansatz des Dekolletes funkeln Rubine. Handschuhe aus dunkelgrünem Samt verhüllen Hände und Unterarme bis an die Ellenbogen. Sie greift mit Zeigefinger und Daumen das Champagnerglas, das ihr der Baron reicht. Ihr Blick ist freundlich, aber distanziert. Sie hat vor zwei Tagen, als sie bei ihrer Morgentoilette in den Spiegel schaute, eine kleine Falte am Kinn entdeckt. Jetzt liegt Schminke darüber, aber sie gibt sich keinen Illusionen hin, dass ihrer Cousine, Viola von Steupitz, dieser Makel verborgen bleiben könnte. Schon bald würde Viola, eine ganz und gar unausstehliche Person, dafür sorgen, dass diese winzige Veränderung in ihrem Gesicht bei den Damen der Gesellschaft bekannt würde. Die Baronin seufzt kaum hörbar. Das ihr die Natur gerade zu ihrem vierzigsten Geburtstag. diesen kleinen Streich spielen muss. Aber was sollte es: C‘est la vie, dachte die Baronin. Leopold von Brockdorff dankt indessen seiner Frau in geschmeidigen Worten für zwanzig Jahre, die er an ihrer Seite verbringen durfte, er rühmt ihren Kunstgeschmack, lobt ihre Großherzigkeit und beteuert, welch allseitige Verehrung ihr entgegengebracht wird. Dann küsst er der Baronin mit einer eleganten Verbeugung die Hand. Die Gläser klingen aneinander und Freya von Brockdorff nippt an ihrem Champagner. In den freundlichen Beifall der Gäste mischen sich die Töne einer Walzermelodie, denn die Kapelle hat zu spielen begonnen.
Leopold von Brockdorff ist innerlich froh, als die Gratulationscour überstanden ist. Das ganze Brimborium langweilt ihn. Nach dem Kaffee zieht er sich gern mit einigen Herren in den blauen Salon zurück. Von voluminösen Zigarren steigen Rauchkringel in die Luft. Die dicksten Schwaden würzigen Zigarrenqualms pafft Henning Clausner, der Hakenberger Mühlenbesitzer, in den Salon. Der vierschrötige Mann füllt den breiten Ledersessel vollständig aus. Die Weste spannt über dem Bauch. Die Ärmel seines Fracks wirken zu kurz. Clausner ist der einzige Mann im Salon, der kein von vor dem Namen hat. Im Grunde weiß er, dass die adligen Herren ihn als einen Emporkömmling ohne Bildung und Manieren verachten. In dieser Gesellschaft der Grafen und Barone ist er, der Industrielle, dessen Familie in der Gründerzeit nach dem Deutsch -Französischen Krieg zu Reichtum kam, ein fremder Vogel im Schwarm. Doch Clausners Natur ist nicht auf Empfindlichkeiten ausgelegt. Er ist der reichste Mann im Strieglower Land. Außer der Hakenberger Getreidemühle gehören ihm eine Brauerei, ein Schlachthof und ein Sägewerk. Seine Familie hält Anteile an Schifffahrtslinien und Handelshäusern. Er kann sich noch mit jedem dieser Monokelfritzen messen, die er instinktiv für Relikte vergangener Herrlichkeit hält. Sein Selbstvertrauen wird von der Überzeugung gestärkt, dass diese Herrenreiter mit ihren ewig auf Klavieren herum klimpernden Gattinnen ihre Vermögen geerbt haben, während er sich sein Geld erarbeitete. Er wäre heute möglicherweise nicht einmal der Einladung nach Hohenlohe gefolgt, denn der Baron braucht ihn mehr, als er den Baron. Doch seine Gertrud wäre dann wochenlang unglücklich gewesen. Dies galt es im eigenen Interesse zu vermeiden. Die Einladung auf Gut Hohenlohe zählte für Gertrud zu den Höhepunkten des Jahres. Einmal hegte sie im Unterschied zu ihrem Gatten eine heimliche Bewunderung für die Aristokratie. Zum einen, weil sie ein Faible für Familienstammbäume hatte, zum anderen gab ihr diese Einladung Gelegenheit, die ohnehin reichhaltige Kollektion ihrer Garderobe unter dem Vorwand in Gesellschaft der anderen vornehmen Damen nicht plundrig, wie sie zu sagen pflegte, erscheinen zu dürfen, um einige ausgesuchte Stücke zu erweitern. Ausnahmslos handelte es sich dabei um Maßanfertigungen, denn Kleider von so edlen Stoffen, wie sie vor den Augen der Gertrud Clausner Gnade fanden, führte kein Handelshaus in Größen, die gereicht hätten, die fülligen Formen der Fabrikantengattin aufzunehmen. Der Mühlenbesitzer quittierte den Appetit seiner Frau auf Sahnetorten, Samtkleider und Goldschmuck mit der Gelassenheit eines Mannes, der nach dem Grundsatz handelte: Lass den Weibern ihren Willen, dann bekommst du deine Ruhe. Als junger Kerl hatte er in den Berliner Puffs die Puppen tanzen lassen. Als er sich ausgetobt hatte, begann er sich ernsthaft fürs Geschäftliche zu interessieren. Und obwohl er kein Abitur gemacht und nie eine Handelsschule besucht hatte, betätigte er sich im Wirtschaftsleben mit großem Erfolg. Konkurrenten mussten neidvoll mit ansehen, wie der ungeschlachte Clausner sein kleines Imperium nicht nur über die fürchterlichen Krisenzeiten hinweg gerettet, sondern es auch noch weiter ausgebaut hatte. Für das Sägewerk bei Eichhorst hätte keiner mehr einen Pfifferling ausgespuckt, als es1928 vor dem Ruin stand. Doch Clausner kaufte es und wurde damals von anderen belächelt. Und nun, da der Staat Darlehen an junge Ehen vergab, hatte sich die Nachfrage auf dem Möbelmarkt spürbar belebt. In der Folge füllten sich die Auftragsbücher der Sägewerke. Clausner habe wieder Mal den richtigen Riecher gehabt, meinten manche, andere, die dem Hakenberger weniger geschäftlichen Instinkt zutrauten, kommentierten sarkastisch, die dümmsten Bauern hätten eben die größten Kartoffeln.
Mäßig interessiert, verfolgt Clausner das Gespräch, das sein Nachbar, der alte Graf von Einsiedel, mit dem Freiherrn von Thalheim führt. Der Graf, dessen hageres Gesicht von einem sorgsam gepflegten Backenbart gerahmt wird, erkundigt sich beim Freiherrn nach den Aussichten, Pferde an die Wehrmacht verkaufen zu können. Jetzt, da die Einführung der Wehrpflicht unmittelbar bevorstünde, sei es ja klar, dass Deutschland seine Armee auf eine angemessene Sollstärke vergrößern werde. „Was denken Sie, mein Lieber, gute Kavalleriepferde werden bald schon in großer Zahl gebraucht werden.“ Ohne die Antwort abzuwarten, berichtet der Graf, dass er 1914 auf einem auf dem eigenen Gut gezogenem Fuchswallach ins Feld eingerückt sei. Leider sei das brave Tier dann in der Marneschlacht von einem Schrapnell so böse verwundet worden, dass er ihm mit seiner Null Acht den Gnadenschuss geben musste. Der Graf erinnert sich dann der Traditionen der Pferdezucht auf seinem Gut Hartmannsfelde. Die Zahl der Zuchtpferde habe er in den schlechten Jahren in der Nachkriegszeit zwar drastisch verringern müssen, teilt er betrübt mit, doch ausgezeichnete Beschäler ständen weiter zur Verfügung, darunter Nachfahren des legendären Arado vom Königstein, der ja leider...“ Der Freiherr nickt mitfühlend. Er hat diese Geschichte mehrmals zu hören bekommen. Der Vater des Grafen, ein Aristokrat reinsten Wassers, hatte den hochkarätigen Zuchthengst eigenhändig mit der Jagdbüchse erschossen, nachdem er erfahren hatte, dass ein Knecht, der das Pferd von der Weide holen sollte, darauf zum Stall geritten war. Ein Stein aus kretischem Marmor erinnerte heute im Park des Gutes Hartmannsfelde an das edle Tier. Der Graf, nachdem er sich einen Moment der Erinnerung an Arado gegönnt hat, kehrt wieder zum Tagesgeschäft zurück. Er sei sicher, dass die neue Entwicklung einen Aufschwung der Pferdezucht verheiße. „Wann ist mit der Aufstellung der ersten Kavalleriedivision zu rechnen, von Thalheim?“
Der Freiherr, der auch im zivilen Frack straffe militärische Haltung wahrt, räuspert sich. Er braucht einige Momente Zeit, um sich eine diplomatische Antwort zu überlegen. Nun, vorerst sei noch wenig über die künftige Struktur des Heeres bekannt. Ja, zwölf Korps mit sechsunddreißig Divisionen werde es umfassen, wie die Presse ja bereits berichtet habe. Doch er könne hier schon einmal sagen, dass es in der Wehrmacht keine Kavalleriedivision geben werde. Auf dem Gesicht des Grafen von Einsiedel spiegelte sich nach dieser Auskunft aus dem Munde eines Mannes, der als Generalstabsoffizier zweifellos in die Fragen der militärischen Planung eingeweiht sein musste, Bestürzung. Keine Kavallerie? Was hatte das zu bedeuten? Von Thalheim, der wohl sah, dass seine Ausführungen den alten Grafen beunruhigten, zuckt die Achseln: „Die Pferdestärken, die wir brauchen, liefern uns die Motoren. Die Tanks werden die Waffen der Zukunft sein. Die Tanks und die Flieger.“ Der Graf zeigt sich konsterniert. Clausner registriert die Enttäuschung des alten Aristokraten mit heimlicher Schadenfreude. Der Fabrikant saß zuletzt als Kind in einem Pferdesattel. Und nicht einmal damals machte ihm das Spaß. Doch er war einer der ersten im Strieglower Land, der. sein Auto selber steuerte, statt sich von einem Chauffeur durch die Gegend kutschieren zu lassen. Er liebte es, wenn er mit seinem Daimler über die Straßen brauste. Wenn er, die Lederhaube auf dem Kopf, mit offenem Verdeck. im Sommer durch Lindenalleen jagte, fühlte er sich, als wäre er das Sportas Caracciola. Wie ein Schuljunge freute es ihn, wenn in den Dörfern die Gänsescharen vor seinem Kühler auseinander stoben, in Panik versetzt von seiner grellen Hupe. Was für ein Jux, wenn er sich lachend nach den zeternden Bauersfrauen umschaute, die ihm Verwünschungen hinterher schrien.
„Die Technik ist entscheidend, meine Herren, in unserer Zeit hängt alles vom Stand der Technik ab. Da müssen wir die Nase vorn haben.“ Genussvoll zieht Clausner nach diesem Diskussionsbeitrag an der Havanna, sich der Wirkung seiner Worte sicher. Doch der alte Graf fühlt sich durch die respektlos polternde Art des Jüngeren herausgefordert. Er zückt sein Monokel und mustert den Nachbarn. Das Vergrößerungsglas bringt an den Tag, was der Graf bereits vermutete: auf dem Hemdkragen: seines rotgesichtigen Gegenüber zeichnen sich Schweißflecke ab. Befriedigt lässt Graf von Einsiedel das Monokel in der Fracktasche verschwinden. Dann, mit ruhiger, aber bedeutungsschwerer Stimme, hebt der Graf an, um diesem ungehobelten Neureichen die gebührende Lektion zu erteilen. „Ich glaube“, sagt er, „dass in jedem Krieg der Geist einer Armee und“...seine Stimme wird schneidend, „die Führungs-Qualitäten ihres Offizierskorps darüber entscheiden, ob ihre Regimenter auf dem Schlachtfeld ihren Fahnen Ehre machen. Nichts kann diese Grundtugenden, die uns Preußen als Erbe hinterlassen hat, ersetzen. Kombattanten schlagen die Schlachten, nicht die Technik“.
Stolz reckt der alte Aristokrat das Kinn, überzeugt, beim Fabrikanten zumindest für ein ehrfürchtiges Schweigen gesorgt zu haben. Es wirkt auf ihn wie eine kalte Dusche, als der Unternehmer mit einer Stimme, aus der zum Entsetzen des Grafen nicht die geringste Verunsicherung heraus zu hören ist, erwidert: „Ehre hin, Ehre her, was letztlich zählt, ist der Sieg. Die anderen haben es uns doch vorgemacht. Wie viele Neger und Inder haben bei den Franzosen und Briten mitgekämpft. Und wie man weiß, gar nicht schlecht. Aber was den Ausschlag gab, war die Technik.“ Clausner wird nun im Ton nachdrücklicher. „Machen wir uns doch nichts vor, meine Herren, unsere Sache war verloren, als uns der Engländer im letzten Kriegsjahr mit Massen von Tanks auf den Leib rückte.“
Der Blick des Grafen von Einsiedel wird eiskalt vor Empörung. Hinter seiner Stirn arbeitet es. Wie soll er diese Attacke parieren? Doch nun wird ihm Hilfe vom Gastgeber zuteil. Leopold von Brockdorff, die Zigarre elegant in seiner feingliedrigen Hand haltend, die Augenbrauen leicht angehoben, lässt seine Worte fallen, als schlüge Metall auf den Boden, hart und klingend: „Unsere Sache war verloren, als Sozis und Spartakus der Front den Dolch ins Genick jagten. Nicht im Felde wurden wir besiegt, Verrat hat uns zu Fall gebracht. Verrat, sage ich, hat unsere Opfer entwertet und unsere ruhmvollen Fahnen entweiht. Verrat war unser Untergang, Verrat.“
Als erster bricht der Graf von Einsiedel das Schweigen, das auf die Rede des Barons zunächst folgt „Jawoll, mein lieber Leopold, du nennst die Dinge beim Namen. Die rote Pest hat uns den Sieg gekostet.“, Seine Augen blitzen den Fabrikanten an, als traue er diesem zu, heimlich mit den Gewerkschaften und noch schlimmeren Roten zu paktieren. Allenthalben regt sich Zustimmung. Die Männer blasen den Rauch ihrer Zigarren in den Salon. Unter Seidenhemden straffen sich Oberkörper. Bis zuletzt habe die Front wie ein Mann gestanden, poltert der Rittmeister Ulrich von Liebenfels, der als Kürassier seine Stute Alraune und zwei Finger der linken Hand auf dem Schlachtfeld von Tannenberg gelassen hatte. Und er schüttelt dazu die rechte Faust in Kopfhöhe, als schwinge er wieder den schweren Säbel, mit dem er im August 14 auf der ostpreußischen Wallstatt Kosakenschädel spaltete. Das stille Heldentum unzähliger Offiziere und Soldaten sei ausgelöscht worden, als in Kiel die Novemberverbrecher die Macht an sich gerissen hätten, empört sich der Baron von Hochstetten, ein zartgliedriger, blässlicher Mann, den ein Lungenleiden am Kriegsdienst gehindert hatte. Der Graf von Schaumburg-Lippe hat sich kerzengerade in seinem Sessel aufgerichtet: „Ja, Meuterei ist das schlimmste aller Verbrechen. Stellen wir uns doch einmal vor, was geworden wäre, wenn diese Bande von Sozis und Bolschewisten, wenn die Liebknechts und Luxemburgs ihr Ziel erreicht hätten und Deutschland dann den Weg Russlands gegangen wäre“, stöhnt er mit gepressten Lippen, während die Enden seines gezwirbelten Schnurrbartes nervös zucken.. „Wir würden jetzt in einem Schlachthaus leben.“
Hmm, grunzt Clausner. Was soll er dazu sagen? Er hat die Lust am Gespräch verloren, das ihm nunmehr zu politisch geworden ist. Clausner war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Mehr wollte er gar nicht sein. Besorg dir einen langen Löffel, damit du dir die Fettaugen von der Suppe holen kannst, hatte ihm einst sein Vater auf den Weg gegeben, als er die Ausbildung am Gymnasium abbrach. Sein späterer unternehmerischer Erfolg hatte in ihm die Überzeugung genährt, dass das Glück auf der Straße lag, und wer sich danach bückte, fand es auch. Das Geld kam von allen Seiten geflogen. Jetzt verhandelte er mit einem jüdischen Möbelfabrikanten, den die neuen politischen Verhältnisse in Deutschland so erschreckt hatten, dass er sich davon machen wollte, zu seiner Sippschaft in Amerika. Hier wollte er nun seinen Besitz losschlagen, um das Kapital für einen Start in der Neuen Welt zusammen zu bringen. Nun ja, Clausner pafft genussvoll seine Havanna, wenn einer gleich in Panik geriet, weil jetzt in der Regierung Judenhasser saßen, dann musste er sich doch keine Vorwürfe machen, dass er die Gelegenheit beim Schopfe ergriff, ein gutes Geschäft abzuschließen.. Außerdem sah er dies als ausgleichende Gerechtigkeit. In den Zeiten der Wirtschaftskrise hatten Juden mit dem Geld, das ihnen ihre amerikanische Verwandtschaft schickte, glänzende Geschäfte getätigt, hatten sie für eine Hand voll Dollars hunderte ruinierter Betriebe und tausende verschuldeter Höfe aufgekauft. Nun schlug das Pendel wieder zur anderen Seite aus. Das war der Welten Lauf. Hmm, grunzt Clausner erneut. Er fühlt die Blicke auf sich gerichtet, abschätzend kühl oder grimmig herausfordernd. Auf einem politischen Parkett aber fühlte er sich unsicher, wie ein Tanzschüler, der in der ersten Unterrichtsstunde die Führung der Dame übernehmen sollte.
„Meine Herren “, Ferdinand Freiherr von Thalheim, blickt in die Runde, „meine Herren, sie können versichert sein, dass wir im Generalstab die Ursachen der Niederlage gründlich analysiert und dass wir daraus alle erforderlichen Schlussfolgerungen gezogen haben.“ Der Freiherr legte eine kleine Pause ein, um die Bedeutung seiner Worte zu unterstreichen. Er schaut zum Fabrikanten hin, sich dabei bewusst, dass er diesen aus einer misslichen Lage erlöst. „In der Tat ist es so, dass der 9. November 1918 als ein dunkler Tag in den Annalen der Deutschen Geschichte verzeichnet bleibt. Doch nun ist eine neue Zeit angebrochen. Mit der Einführung der Wehrpflicht stehen neue, große und ehrenvolle Aufgaben vor uns. Die Wehrmacht aber....“der Offizier macht noch einmal eine kleine Pause, „die Wehrmacht wird im Geiste bester preußischer Traditionen zu einer schlagkräftigen Truppe entwickelt.“
Von Thalheim verfällt in einen dozierenden Ton, als halte er an der Militärakademie. einen Vortrag vor Offiziersschülern. Anders als die Reichswehr, die immer ein ungeliebtes Stiefkind in einem von Demokraten regierten Staat gewesen sei, werde die Wehrmacht im nationalsozialistischen Deutschland den Charakter eines Volksheeres haben. Und der Generalstab werde natürlich die Militärdoktrin dem Stand der technischen Entwicklung anpassen. Ja, er könne sagen, man habe dies bereits getan. Ausgerüstet mit modernen Waffen, die in neuen Rüstungsbetrieben produziert würden, geformt im Geiste des erwachten Deutschland, werde das Reich mit der Wehrmacht ein Heer auf die Beine stellen, das sich mit den Armeen Frankreichs und Russlands messen könne. „Einige Jahre noch, meine Herren, einige Jahre werden wir noch benötigen. Doch mit der Wehrpflicht ist der Grundstein für den großen Bau gelegt.“
Leopold von Brockdorff nickt anerkennend. Er erhebt sich aus seinem Sessel.. „Wir sollten anstoßen, meine Herren. Wahrlich ein guter Grund zum Feiern. Deutschland steht an der Schwelle zu einer neuen Ära seiner Geschichte. Und wir werden das Glück haben, Zeugen dieser großartigen Zeit zu werden.“ Den hellen Klang der aneinander stoßenden Sektgläser schlucken die reich drapierten Wände des Salons.


*


„ Mein Gott, Wilhelm, wenn ich dich nicht kennen würde, ich könnte nicht glauben, was du mir erzählst. Das ist furchtbar, das ist...“ Pfarrer Elsner macht eine Pause, als wage er das Wort nicht auszusprechen. Dörbrandt nickt: „Das ist Mord“, sagt er mit tonloser Stimme. Die beiden Männer, die sich im Wohnzimmer des Pfarrhauses in ihren Sesseln gegenüber sitzen, schauen einander in die Augen. „Du denkst nicht daran, Anzeige zu erstatten?“ Der Pfarrer mustert seinen Freund. Die Wangen eingefallen, dunkle Ringe unter den Augen, sitzt der Lehrer vor ihm. Ein Mann, dessen bis dato einigermaßen heile Welt über Nacht aus den Fugen geriet. Wie alt Dörbrandt auf einmal aussieht, kommt es ihm in den Sinn. „Außer uns und Grete weiß bisher niemand davon?“ Dörbrandt schüttelt den Kopf. „Ich habe sonst zu keinem ein Wort darüber verloren.“
Elsner nickt stumm. „Was für einen Sinn würde eine Anzeige haben?“, sprach der Pfarrer wie zu sich selbst. „Die SA ist die Truppe der Partei.. Sie gilt sogar als Hilfspolizei.“ Er macht eine Pause. „Saltzer ist jetzt ein mächtiger Mann. Mit einer Anzeige gegen ihn oder andere von der SA würden wir die Partei herausfordern.“
Dörbrandt nickt bedächtig. Seine rechte Hand rutscht einige Male auf der Stuhllehne hin und her als denke er angestrengt über etwas nach. „Saltzer, Heinrich, Schimmelpfennig, alle Parteigenossen hier aus Benkenhorst, Steinfelde und Görsdorf hängen da mit drin.“
„ Geschossen hat aber nur einer. Du sagtest doch, du hättest nur einen Schuss gehört.“, vergewissert sich der Pfarrer. Dörbrandt nickt bedächtig. „Ja, ich habe zunächst Müller und Schimmelpfennig erkannt, dann kamen andere hinzu, angeführt von Saltzer. Mein Nachfolger Heinrich darunter. Die standen um den Leichnam.“ Dörbrandt zieht ein Taschentuch, wischt sich über die Stirn.
„ Fürwahr, jetzt sind wir schon soweit, dass sie einen unschuldigen, harmlosen Menschen erschießen. Ich werde in jedem Fall die Kirchenbehörden informieren.“ In der Stimme des Pfarrers bebt leiser Zorn.
„ Die werden Einzelheiten wissen wollen“, gibt Dörbrandt zu bedenken. „Ja, natürlich“ Der Pfarrer reibt sich nachdenklich das Kinn. „Wenn ich einen Brief schreibe, kann ich nicht sicher sein, dass er ungeöffnet auf dem Tisch des Superintendenten landet. Die neue Geheimpolizei soll große Vollmachten haben. Nein“, Elsner verschränkt die Hände ineinander, „ich fahre nach Landsberg und rede persönlich mit Superintendent Hensel.“
„ Was kann die Kirche da tun?“ Dem Pfarrer ist, als würde er den fragenden Blick seines Freundes geradezu körperlich fühlen. Ja, was konnte die Kirche tun? Die Bestrafung der Schuldigen fordern? Hatte Deutschland nicht in den vergangenen Jahren eine endlose Kette von Gewalttaten erlebt? Viele Menschen waren erschlagen, erstochen oder erschossen worden - Kommunisten, Sozialdemokraten, Nazis, Gewerkschafter. Blut war auf allen Seiten geflossen, in den politischen Auseinandersetzungen seit dem verlorenen Krieg. Generäle hatten geputscht, die Kommunisten in Hamburg einen Aufstand angezettelt, die Nazis in München einen Staatsstreich versucht. Niemand wusste genau, wie viele Menschen dabei ihr Leben lassen mussten. Wen würde der Tod einer Frau aufregen, die außerhalb ihres Dorfes kaum jemand kannte? Und dennoch: Warum musste Anni Haider sterben?
Der Pfarrer verspürt plötzlich ein Würgen im Hals. Es ist das Gefühl der Ohnmacht, das ihn übermannt. Erschossen, hämmert es in seiner Stirn, erschossen für nichts. Elsner fühlt plötzlich das Bedürfnis frische Luft einzuatmen. Er geht zum Fenster. Er öffnet einen der Flügel, zieht die klare, würzige Frühlingsluft in die Lungen. Seine Sinne sind in diesem Moment aufs äußerste geschärft. Doch, was er wahrnimmt ist der gewohnte Gang des Dorflebens. Willi Voigt kam gerade auf seinem Fuhrwerk vorüber, den Wagen beladen mit Dung. Die Bauern hatten mit der Frühjahrsbestellung begonnen. Voigt blickt herüber, hebt grüßend die Hand. Dann tixt er eines seiner Pferde lässig mit der Peitsche. Dabei sagt er irgendetwas. Die Gäule beschleunigen ihre Gangart, um aber nach wenigen Metern wieder in einen ruhigen Trott zu verfallen. Schräg gegenüber war Meta Rüthnick damit beschäftigt, Wäsche auf die Leine zu hängen. Ruhe lag über dem Dorf. Die Kinder saßen in der Schule. In den Häusern bereiteten die Bäuerinnen jetzt das Mittagessen für ihre Familien vor. Eine freundliche Frühjahrssonne goss ihr Licht über die Dächer, trieb in den Gärten die Pflanzen aus dem Boden. Auf einem Zaunpfahl hockte dösend eine schwarz-weiß gefleckte Katze. Benkenhorst bot ein Bild des Friedens.
Der Pfarrer schließt das Fenster. Mit bekümmerter Miene nimmt er wieder seinen Platz ein. „Wenn so viele von der Sache wissen, ist es praktisch ausgeschlossen, dass davon nichts bekannt wird. Die Leute werden es mit Sicherheit erfahren, irgendwann in den nächsten Tagen oder Wochen.“
„ Ja“, nickt der Lehrer. „Sie werden es erfahren. Doch was dann? Wird es einen Prozess geben?“ Elsner hebt die Schultern. „Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter.“
„ Aber, mein Gott, es war doch Mord. Mord.“ Um Dörbrandts Mundwinkel läuft ein Zucken, er muss schlucken.
Ruhig blickt Elsner den Freund an. „Es gibt nicht nur die irdische Gerechtigkeit, Wilhelm“, sagt er sanft. Doch der Lehrer schüttelt den Kopf. „Ich weiß nicht, wie ich mit dem Wissen um das, was da draußen geschah, künftig leben soll. Man kennt diese Leute, .man trifft sie auf der Straße, man möchte sie fragen, warum sie es getan haben.“ Dörbrandt verstummt, schüttelt den Kopf. Der Pfarrer beugt sich vor. „Das ist doch verständlich, Wilhelm, wem würde es anders ergehen? Und dennoch“, Elsner schlägt einen beschwörenden Ton an, „tu nichts Unbedachtes, Wilhelm. Niemand kann es dir verübeln, wenn du jetzt auch an deine Frau und deine Tochter denkst. Wir leben in einer gefährlichen Zeit. Jeder voreilige Schritt kann unübersehbare Folgen haben “
Dörbrandt spürt die Sorgen, die den Pfarrer seinetwegen plagen. „Aber“, er hebt hilflos die Hände, „es müssen doch die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. Wie soll ich denn leben mit dieser Last auf meinem Gewissen?“
„ Jaaa“, kommt es langgezogen von den Lippen des Pfarrers. Abbrechend nickt er einige Male stumm Dann, als sei ihm etwas eingefallen, erhebt er sich plötzlich, bedeutet seinem Gegenüber einen Moment zu warten. Er geht ins Nebenzimmer, kehrt gleich darauf mit einem Buch in der Hand zurück. Bereits in den Seiten blätternd, lässt er sich auf dem Stuhl nieder. „Ach hier“, Elsner hält inne, schaut Dörbrandt an. Er liest mit weicher, leicht schwingender, doch darum umso eindringlicherer Stimme: „Wer in Sorgen steht um der Liebsten Leben, muss von seinem Besten ein Stück nach dem andern geben. Und strebte er auch nach reinster Luft, ist er am Ende doch ein halber Schuft.“ Elsner legt das Buch auf den Tisch. „Das schrieb Theodor Storm vor einem Menschenalter. Und heute ist alles viel schlimmer geworden. Glaub mir, mein Freund, ich verstehe deine seelischen Nöte.. Aber ich kann dir nicht raten, auf die irdische Gerechtigkeit zu vertrauen. Nicht jedenfalls in diesem Staat. Du musst natürlich letzten Endes deinem Gewissen folgen. Aber wage es nicht, in diesem System auf Gerechtigkeit zu hoffen.“ Der Pfarrer, den Blick zu Boden gerichtet, sagt: „Wir sind in einer furchtbaren Lage.“
Dörbrandt atmet tief durch. Er wisse, dass der Nationalsozialismus andere Rechtsmaßstäbe habe, als die, die früher gegolten hätten. „Doch Mord ist Mord.“ Der Lehrer presst die Lippen zusammen, sein Blick wird hart.