Preisbeiträge
des Literaturwettbewerbs "Besinnung und Trauer"
1. Preis
Monika Jarju & Ali Amini
Die Ostroute (Auszug)
Aus dem Halbdunkel zeichnete sich die Öffnung zum Zimmer
seines Vaters wie ein dunkler Fleck ab. Dahinter lag ein Raum mit
vielen Erinnerungen. Nader folgte einem Impuls und stand auf. Langsam
näherte er sich dem Zimmer seines Vaters. Er wusste nicht,
was er suchte. Er ahnte auch nicht, was er finden könnte.
Er stand an der Schwelle, lehnte den Kopf gegen den Türrahmen
und sah in das kleine Zimmer hinein. Durch die verschossenen Vorhänge
fiel mattes Licht. Von den Lehmwänden blätterte alte
Tünche, der Boden war mit einem schäbigen Teppich bedeckt.
An der Wand lehnte ein Polster, die alte Holztruhe des Großvaters
stand in der Ecke, die Laken waren glatt gezogen über der
Wolldecke. Alles war ihm vertraut, aber er schaute auf alles mit
neuem Blick. Er suchte nach einer Hoffnung. Er prüfte die
Dinge, er fragte sie statt seinen Vater. Afsoon stand neben ihn
und beobachtete ihn schweigend. Sein Blick schweifte erneut durch
das müde halbdunkle Zimmer und blieb am Boden hängen.
Er hatte es vergessen. Der Teppich, der kostbare Teppich fehlte
schon seit einiger Zeit. Es war ihm, als ob sein Leben Schicht
um Schicht ärmer wurde wegen des fehlenden kostbaren Teppichs,
der den alten schäbigen einst mit seiner Pracht bedeckt hatte
und dem Leben eine Sicherheit verlieh. Die Dinge schienen sich
von ihnen zurückzuziehen und nicht nur die Dinge. Der Boden
selbst entschwand immer mehr mit seinen Gewissheiten. Dann erinnerte
er sich.
Nach der Geburt seines zweiten Bruders starb seine Mutter Vajiheh.
Sein Vater heiratete eine junge Witwe, Naar Khaanum. Sie liebte
Nader wie ein eigenes Kind. Jedes Jahr wurde sie schwanger und
verlor ein Kind nach dem anderen. Verzweiflung und tiefe Trauer
erfasste beide nach dem Tod des dritten Kindes. Mahboob und seine
Frau beschlossen ein Nazri, eine Opfergabe zu bringen. Sie beteten
zu Gott und baten ihn um ein Kind. Sie schworen, sollte Gott ihnen
ein Mädchen schenken, würden sie es mit einem Seyyed,
einem Nachfolger aus der direkten Herkunft des Heiligen Propheten
Mohammed, Friede sei mit ihm, verheiraten. In ihrem Dorf lebte
ein alter Mann, ein Sahm e Seyyed, Mir Jalil war sein Name. Er
hatte einen zweiundzwanzigjährigen Sohn Mir Habib, sie riefen
ihn Miri. Ihm versprachen sie ihre zukünftige Tochter. Gott
war großzügig und schenkte ihnen ein Mädchen. Sie
nannten sie Afsoon, Zauber, und waren überglücklich.
Die Jahre vergingen, Afsoons Mutter starb. Sie war gerade zwölf
Jahre alt und in die Trauer über den Tod der Mutter mischte
sich ihre Trauer um ihre Zukunft, wenn sie am Hause von Mir Habib
vorbei ging. Miri war zu alt für sie und bereits verheiratet.
Er hatte drei Töchter. Was für ein schreckliches Schicksal
stand ihr bevor. In ihren Gebeten bat sie Gott innig um Schutz.
Nader erinnerte sich an die letzten Worte von Naar Khaanum, die
sie mit kaum hörbarer Stimme von ihrem Sterbebett sprach.
Mahboob hatte sich zu ihr gebeugt, um sie besser verstehen zu können.
Nader kniete auf der anderen Seite neben ihrem Bett. Afsoon lehnte
sich an Nader, sie hielten die Hand ihrer Mutter in ihren Händen
und streichelten sie. Eine deutliche Qual zeichnete sich auf dem
Gesicht von Naar Khaanum ab. Mehr noch als den Tod fürchtete
sie um die Zukunft ihrer Tochter. Sie hatten sich so sehr ein eigenes
Kind gewünscht. Sie waren bereit gewesen jeden Preis zu zahlen.
Erst kurz vor ihrem Tod hatte sie begriffen, dass nicht sie und
ihr Mann den Preis zahlen mussten, sondern ganz allein ihr Kind.
Ihre kleine Tochter sollte für ihren Herzenswunsch bezahlen.
Sie sah mit letzter Kraft Afsoon an, dieses kleine Mädchen
mit dem schmalen Körper, so zartgliedrig, mit dem weichen
runden Gesicht eines Kindes, den großen dunklen Augen, die
sie von ganzem Herzen liebte, sollte einen so viel älteren
Mann heiraten müssen. Sie flehte Mahboob an, den Schwur rückgängig
zu machen. Ihr Blick ruhte lange auf ihm, bis er stumm nickte und
ihre Hand drückte. Ihr Gesicht wurde weicher, mit einem sanften
Lächeln schlief sie ein. Auch in Mahboob hatte sich die Sorge
eingeschlichen, als er seine Tochter heranwachsen sah. Auch er
bedauerte seine Entscheidung.
Nach der Trauerzeit gingen er und Nader eines Tages gemeinsam
zum Haus des Mir Habib. Der alte Mir Jalil war inzwischen verstorben.
An den Sitten hatte sich einiges geändert. Das Nazri konnte
inzwischen auch mit Geld, Kleidern, Weizen oder ähnlichem
bezahlt werden. Sie baten den Sohn des alten Seyyed um Vergebung.
Sie wünschten, er möge ihnen das Nazri erlassen. Ein
langes Schweigen folgte. Mabhoob und Nader hielten respektvoll
die Augen gesenkt und wagten nicht den Blick zu heben. Miri verweigerte
ihre Bitte und schickte sie fort.
Einige Monate später klopfte Miris Frau an Mabhoos Tür. Sie war ganz
in ihren Tschador eingehüllt und sprach leise und stockend auf Mahboob
ein. Afsoon hatte sich halb hinter dem Vorhang versteckt, als sie Miris Frau
kommen sah. Während Miris Frau sprach, huschten ihre Augen unruhig umher
und entdeckten Afsoon, die sich noch tiefer hinter dem Vorhang verbarg. Mit
unverhohlener Neugier und Abscheu musterte sie Afsoon. Ihre Stimme zitterte
beim Sprechen und verriet ihre Wut. Sie hatte nicht kommen wollen, aber ihr
Mann schickte sie, um den Hochzeitstermin zu überbringen. Ihre Augen bohrten
sich in Afsoons, wie um ihr die doppelte Demütigung jetzt schon heimzuzahlen.
Drei Töchter hatte sie ihrem Mann geboren. Die Mädchen waren ein
Nichts in seinen Augen. Sie waren ihr Makel, sie nahmen ihr die Zukunft. In
die Stadt hatte er sie gezerrt zu einem Arzt, wie eine Aussätzige behandelte
er sie Nichts hatte er begriffen. Nicht einmal als ihm der Arzt erklärte,
dass es nicht an ihr, sondern an ihm lag. Generationen von Männern vor
ihm hatten diese Sätze gedacht und gesprochen. Ungebrochen lebten diese
Generationen von Männern in ihm fort. Mit Verwunderung hatte sie ihm zugehört.
Sie ahnte, dass eine tiefere Wahrheit dahinter steckte, die sie nicht begriff.
Was lebte in ihr fort? Sie fühlte sich leer. Wo waren ihre Ahnen? Gott
hatte ihr keinen Sohn gegönnt und diesen Mann dazu. Vor Mabhoob senkte
sie ergeben den Blick. Er schaute schweigend zu Boden, suchte im Sand nach
einer verlorenen Antwort.
Kurz darauf gingen Mahboob und Nader erneut zum Haus des Mir
Habib. Er empfing sie und bat sie herein. Eine Frau im Tschador
trat ein, in den Händen ein Tablett mit Tee. Sie erhoben sich
und begrüßten sie. Es war Miris Frau, sie stellte das
Tablett auf dem Teppich ab und kniete sich ein Stück weit
entfernt hin. Wieder redeten sie auf ihn ein. Sprachen davon wie
sehr sie Gott gebeten hatten ihnen den Wunsch nach einem Kind zu
erfüllen. Baten ihn bei seiner Frau und seinen Kindern um
Vergebung, wünschten ihm ein langes Leben, Gesundheit und
Wohlergehen. Gott würde ihn belohnen für sein großes
Herz. Gott ist groß! Er wird uns vergeben, beteuerten sie.
Er wird Miri alles zurückzahlen, versicherten sie ihm. Miri
hörte kaum zu, nippte am Tee und sah in Gedanken die kleine
Afsoon vor sich, die zu einem hübschen Mädchen herangewachsen
war. Er war ihr begegnet als sie mit den anderen Kindern lachend
und scherzend vom Wasserholen kam. Sie würde einmal eine schöne
Ehefrau abgeben. Ihr heiteres Lachen klang ihm noch im Ohr. Er
sah ihre hellen zarten Wangen vor sich und die leuchtend dunklen
Augen, ihren kleinen sinnlichen Mund. Ein Schatten fiel über
sein Gesicht. Er hatte sich über sie geärgert. Auf dem
Weg beobachtete er, wie sie mit einem Jungen sprach, der nicht
ihr Bruder war und auch nicht zu ihrer Familie gehörte. Er
hatte sie scharf angeblickt und nach dem Namen des Jungen gefragt.
Yaavar, antwortete sie leise und schuldbewusst. Yaavar hatte sie
nur nach ihrem Bruder gefragt, aber das konnte Miri nicht sehen
und hören. Er wies sie zurecht, mit einem fremden Jungen zu
sprechen, das ist HARAAM, schrie er. Mit ihrem Vater wollte er
diese Sache besprechen, drohte er ihr. Afsoon war blass geworden.
Sie ging mit klopfenden Herzen nach Hause. Sie klammerte sich an
den Wasserkrug auf ihrer schmalen Schulter. In Miri stieg die Wut
wieder auf bei diesem Bild. Mahboob und Nader verharrten immer
noch schweigend und geduldig auf dem Teppich vor ihm. Der Tee war
inzwischen kalt geworden. Sie starrten auf das Tablett. Die Frau
bot an, frischen Tee zu zubereiten, doch Mahboob lehnte ab, er
wollte ihr keine Umstände bereiten. Er griff nach einem Glas
mit Untersetzer, der Tee war dunkel und lauwarm, er schmeckte trotz
des Zuckerwürfels bitter, der auf seiner Zunge schmolz.
„Nein“, sagte er entschieden, „nein!“ Mit einer brüsken
Handbewegung scheuchte Miri sie aus dem Raum.
Es vergingen noch ein paar Monate. Der Hochzeitstermin war nicht
mehr fern. Afsoon trug dunkle Schatten unter den Augen und aß kaum
noch etwas. Sie wurde dünner und dünner. Ihre mageren
Arme konnten kaum den Wasserkrug halten, wenn sie von der Quelle
kam. Sie saß oft da und starrte vor sich hin in eine ungewisse
gefürchtete Zukunft und schwieg. Ihr heiteres Lachen war verklungen.
Ihre Bewegungen wurden langsam. Wenn sie nach ihr riefen, dauerte
es eine Weile bis Afsoon erkannte, das sie gemeint war. Sie schien
jeden Tag ein Stückchen mehr zu verschwinden. Wohin, wussten
sie nicht.
Etwas musste etwas geschehen. Mahboob machte sich mit seinem Sohn Nader ein
drittes Mal auf dem Weg. Vorsorglich hatte er den kostbarsten Teppich eingerollt,
das einzige wertvolle Stück, das er noch besaß. Sie trugen ihn beide
auf der Schulter zum Haus des Mir Habib. Er empfing sie und beäugte argwöhnisch
den gerollten Teppich, den sie neben sich absetzten. Sie baten ihn viele Male
um Vergebung, sprachen ihren Respekt aus, sie baten um die Gnade Gottes und überhäuften
ihn und seine Familie mit Lobpreisungen. Miri heftete seinen Blick auf den
Teppich, den der Vater ein Stück ausgerollt hatte. Sein Interesse war
geweckt. Dieser Teppich war ein sehr schönes Stück und sehr kostbar
dazu. Das erkannte sein geübtes Auge sofort. Als sie weiter auf ihn einredeten
und unaufhörlich baten, gebot er ihnen zu schweigen. Er ließ sie
den Teppich ganz ausrollen und verzog dabei keine Miene. Er ging auf und ab,
hin und her. Sein Entschluss stand bereits fest, doch er ließ sich Zeit
und trat ans Fenster. Nader und sein Vater saßen auf den Knien neben
den Teppich. Im Muster des Teppichs schien ihr ganzes Leben eingezeichnet zu
sein, jede Freude in einer leuchtenden Farbe, jedes Ereignis in einem dekorativen
Muster. Die Linien hielten sie als Familie zusammen, vermittelten ihnen die
Sicherheiten ihres Lebens. Aber in diesem Haus, unter diesem Licht verblassten
die Farben wie erloschen. Ohne sich umzudrehen, noch mit dem Rücken zu
ihnen, sagte Miri:
„Also gut, einverstanden, lasst den Teppich da!“ Miri wandte sich
vom Fenster ab und kam auf Mahboob zu. Er blieb dicht vor ihm stehen und schaute
mit einem listigen Ausdruck auf ihn herunter.
„Und noch etwas! Du weißt, Mahboob, sechs Siebentel vom Weizen gehören
dem Großgrundbesitzer. So war es üblich, ein Siebentel für den
Bauern. Du denkst wohl, du bist jetzt der Großgrundbesitzer und erlässt
die Regeln? Zahle meiner Familie ein Siebentel der Ernte. Versprich, dass du
mir ein Siebentel deiner Weizenernte abgeben wirst in den nächsten sieben
Jahren. Schwöre bei Gott, Mahboob, dann nehme ich Abstand von der Heirat.“ Ohne
ein weiteres Wort des Abschieds verließ Miri verließ das Zimmer.
So verschwand der letzte kostbare Gegenstand aus ihrem Haus. Seitdem
bedeckte allein dieser abgetretene Teppich teilweise den Boden,
und Afsoon besaß die Freiheit einen Mann zu heiraten, den
sie liebte. Beide sahen sich an und erblickten in ihren Gesichtern
die Spiegelung ihrer gemeinsamen Erinnerung.
[...]
Aus der Erzählung ist inzwischen ein ganzer Roman geworden: Monika
Jarju, Ali Amini: Überall ist das Haus des Windes. Roman, 2016,
12 €
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