Leseprobe

(Auszug aus den Gewinnerbeiträgen im Literaturwettbewerb „Stimmen der Liebe“)



Mesut Bayraktar


Möwen auf der Brücke

(Auszug)

Diese Nächte waren nichts anderes als Zauber. In ihnen drehte sich nicht das Rad der Zeit, auch hielt die Zeit nicht an. Vielmehr fand das Fließen des Jetzt weiterhin statt, aber das Namenlose war, dass das Fließen des Jetzt aus seinem allbekannten Rahmen fiel und sich selbst überschritt. Es wurde zeitlos. Wir fassten gemeinsam die Weltgesamtheit im verdichteten Moment ihrer Flüchtigkeit in ihrem kleinen Zimmer unter einer Dachschräge zusammen. Diese Nächte waren das Suchen nach der Wesentlichkeit der Dinge und die Deutlichmachung der Undeutlichkeit des Selbst. Für einen Augenblick siegten wir, lediglich für einen Augenblick über die Unmöglichkeit der menschlichen Begegnung. Dabei sollte ich ihr nur kurz etwas bringen.
Es war mitten in der Woche. Sie hatte mich kurzfristig darum gebeten, ihr einen juristischen Kommentar zur Bearbeitung einer Akte zu bringen. Da ich noch beim Gericht war und ein Auto besaß, besorgte ich ihr den Kommentar aus der Gerichtsbibliothek und fuhr zum späten Nachmittag zu ihr. Sie wohnte alleine in einem Dachgeschoß eines fünfstöckigen Altbauhauses am Rand der Stadt. Vor dem Gebäude befand sich ein dickes, weißes Metalltor, hinter dem ein kleiner, unregelmäßig gepflegter Garten war, wo die eigentliche Eingangstür zum Haus stand. Der hölzerne Treppenflur, der auf jeder seiner Stufen knarzte, war akkurat mit einem schmalen, gräulichen Teppich verlegt, der den Schall der Schuhsohlen etwas dämpfte. Auf jeder Etage breiteten sich große Fenster aus, die zur Straße guckten und das abnehmende Tageslicht einfingen. Ich war das erste Mal in diesem Haus und es machte in gewisser Weise Eindruck auf mich, vielleicht wegen der Tatsache, dass sie hier wohnte. Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich so etwas wie Anmut spürte, die mit jeder Treppenstufe in mir wuchs. Auf der höchsten Etage angekommen, dehnte sich vor mir eine Wand aus milchigem Glas, das bis zu den hohen Decken reichte, aus. Mittendrin stand eine Tür im Rahmen. Zunächst dachte ich, dass sie hier wohnen würde, sodass ich eine Hand auf die kühle, bronzene Türklinke legte. Sobald ich aber aus dem Augenwinkel sah, dass sich links von mir, schräg neben der Wand aus milchigem Glas, eine weiße Tür, die ich vorher nicht erkannt hatte, öffnete, wandte ich mein Gesicht um und sah sie, wie sie mit ihren perlblauen Augen lächelnd aus dem Türrahmen, der sie wie ein Engel zu einem Gemälde festhielt, guckte. Ich zog meine Hand von der Türklinke und ging ihr entgegen. Sie umarmte mich, dabei roch ich ihre milde Haut am schmalen Nacken, wo sich einige Härchen aufwärts kräuselten. Sie bat mich reinzukommen. Zunächst erwartete ich, dass ich ihr den Kommentar kurz geben und dann wieder verschwinden würde, da sie sicher viel zu tun hätte, hat sie mich doch kurzfristig darum gebeten. Daher war ich überrascht als ich in ihrer Wohnung war, auf einem kleinen, weißen Sofa neben ihrem Bett saß und umgeben war von dem milden, einmaligen Duft ihrer Haut, der ihre überschaubare, kleine Einzimmerwohnung füllte und die glatte Oberfläche meiner dreidimensionalen Wirklichkeitsbilder wie mit einer Messerspitze aufschnitt. Im Zimmer standen eine kleine Kochdiele, daneben ein Kleiderschrank und eine Kommode, ein kleines Bücherregal, darin ein integrierter Schreibtisch, ein Sofa und ein Bett. Ihre Möbel waren größtenteils in weißen oder hellen Farben. Eine gewisse Unantastbarkeit legte sich auf sie wie ein durchsichtiger Schleier. Der Boden war mit einem dunkelblauen Teppich verlegt und die Decke fiel schräg auf die Wand gegenüber jener, wo die Eingangstür war. Zwar hatte die Wand keine Fenster, was einengend wirkte, jedoch – und das fiel mir erst später auf – streckten sich zwei große Fenster auf der Dachschrägen, die geradewegs auf den Himmel gerichtet waren, als wären sie Eingangstüren des Firmaments, mit denen man wie durch Schlüssellöcher hinter die Bilder von Tag und Nacht lauschen könnte.
Sie gab mir einen Tee und wir tauschten uns kurz aus. Sie erzählte mir ihre Schwierigkeiten, die sie mit der Bearbeitung der Akte hatte. Ich spürte Mitgefühl mit ihr, da sie sich sichtlich damit quälte. Ich bot ihr daher meine Hilfe an. Sie lächelte, lehnte jedoch dann ab, da sie es schon selbst schaffen werde. Dann rauchten wir noch eine Zigarette in ihrem ebenso kleinen, überschaubaren Badezimmer, wo neben der Toilette ein geöffnetes Fenster war. Sie stand, ich setzte mich auf die zugeklappte Toilette und krümmte mich rauchend über meine überkreuzten Beine. Es wurde schon dunkel und inzwischen war ich schon seit über einer Stunde bei ihr. Als ich dies bemerkte, bedankte ich mich für den Tee und sobald ich mich verabschieden wollte, schnitt sie mir mit gesenktem Blick mein Wort ab und sprach leise: „Bleib doch noch.“
Das hatte ich sicher nicht erwartet. Ich verstummte, rauchte die Zigarette zu Ende und rätselte über ihren Willen, der mir wie ein Becken voll Sehnsucht schien, wie ich es noch nicht kannte. Nicht, dass wir noch nie was miteinander gehabt hätten, unzählige Male lagen wir auf der Brust des jeweils anderen, aber diese Art Sehnsucht in ihrem Blick, die mir die Tür zu ihrer Wohnung öffnete, wunderte mich, da bis zu diesem Zeitpunkt eine durchsichtige Scheidewand sich zwischen uns schob, die zwar zuließ, dass ich ihren und sie meinen Kosmos sehen durfte, aber ein Stillschweigen uns befahl, dass wir niemals über diese Grenzlinie hinweg die Welt des anderen betreten konnten. Diese Sehnsucht, dieses Verlangen kannte ich nicht an ihr. In diesem Ausmaß war sie mir neu. Nun hatte etwas diese Scheidewand zwischen uns weggeschoben. Ich musste sie nicht mehr durch etwas Unsagbares sehen, ich konnte unmittelbar in ihr Ich fallen, so wie sie in das meine.
Wir gingen wieder in ihr Allzweckzimmer. Ich setzte mich auf das Sofa, sie neben mich. Ich versuchte ihr zu entlocken, was sie bedrängte, doch scheinbar war da nichts, nichts als Sehnsucht im leeren Raum. Sie trug eine hautenge Jeans, eine weiße Bluse und ihre blonden Haare waren am Hinterkopf zu einem Knäuel gebunden. Aus ihrem hellen Gesicht strahlten große, blaue Augen, die wie zwei sattblaue Himmelsfalter unter ihren unscheinbaren Augenbrauen hockten. Plötzlich legte sie eine Hand auf meinen Nacken, mein Puls stieg und meine Lenden pressten mir die Luft in meinen Eingeweiden zusammen und im nächsten Augenblick spürte ich ihre Lippen auf den meinen. Ich legte meine Hände auf ihre Hüften, packte fester zu und ohne jede Überlegung verschwanden sie unter ihrer Bluse. […]



Helga Thomas

Niemandsland

Niemandsland,
ausgespart zwischen den Grenzen,
Vögel nisten dort
nur,
wenn die Grenze nicht passierbar.

Schlangen lernen dort singen,
Niemandsland,
ausgespart,
ein Raum
für Dich und mich.

Niemandsland,
ausgespart zwischen den Herzen,
ein Raum für unsere Liebe,
die dort nisten kann.
Kommst Du,
Zur Niemandszeit,
dann,
wenn das Nie sich,
ins Immer verwandelt?

Kommst Du
zwischen Glockenschlägen,
wenn ich wartend achte
auf das warnende Schrillen der Möwe
an der Grenze,
passierbar nur unserer Liebe
lebend sonst
im Nirgends
und Nie.



Thomas Barmé

lassen wir die liebe bleiben
in der gunst der stunde
seien wir darauf gefasst
lassen wir uns gehen
hand in hand
ü ber alle grenzen hinweg

lassen wir die liebe zu
die uns gefangen nimmt
sprechen wir davon
was uns ausmacht
verraten wir uns
unser kennwort
und lassen wir uns
los werden
von herzen
wir hielten‘s gut in schuss

lass uns
uns wieder treffen
wieder und wieder
ins schwarze
bis es vor den augen ist
machen wir uns davon
schöne
rund wie die welt
denn niemals wird sie für uns
noch einmal
so kugelsicher sein

lassen wir die liebe sein
lassen wir das lassen



Sylvia Amstadt

dreifache Träne von Einem

zwischen gemein und allgemein
liegen kaum noch

Sonnenliegen

ich erinnere mich
an ein geübtes Frieren

dank vieler
zweibeiniger Winter -

ihre schicken Kostüme
verbergen nicht

die Gefrierpunkte dahinter

ich wollte nie dass sie sich
bei mir einquartieren

diese Tiefkühlriesen
von den Tiefkühlinseln

ich war mal ein Fan
wärmender Philosophie

als meine Nächstenliebe
noch „Zuversicht“ hieß

merkwürdig ist -
ich erinnere mich nicht

wie man Güte fabriziert

wohl aber daran

wie sichtbar sie
verblassen kann