Leseprobe
Hans-Jürgen Gundlach
Moorheinen
Das blonde Mädchen mit den Sommersprossen im Gesicht und dem
fellüberzogenen Militärrucksack auf dem Rücken hatte
mich auf dem Bahnsteig in Lüneburg entdeckt, was nicht schwer
war, da ich an einer langen Latte ein Plakat hochreckte, auf dem
stand: „Gäste aus Finnland. Seid willkommen.“ Sie
trat auf mich zu und sagte fast akzentfrei, so als wär‘s
ein gelernter Text: „Guten Tag. Gestatten Sie, mein Herr,
ich heiße Eewa Kaarina Salonen. Wir hatten eine langeweilige
Reise. Wir sind sehr froh, dass wir endlich in Luneburg angekommen
sind.“ Sie schaute mich an und fuhr fort: „Danke, dass
du uns abholst.“
Vom ersten deutschen Wort an, das auf dem Bahnhof in Lüneburg
aus ihrem schmallippigen Munde kam, war ich in Eewa Kaarina verliebt.
Ich wusste, sie kam aus Tampere in Finnland, wo sie an ihrer Schule
Deutsch gelernt hatte. Ein Jahr vor ihrem Abitur wollte sie zusammen
mit ihrer Freundin ihre Sprachkenntnisse in Deutschland verbessern.
Deshalb hatten sich die beiden finnischen Mädchen zu diesem
dreiwöchigen Lager der „Internationalen Jugendgemeinschaftsdienste“ im
Jagdschloss Göhrde angemeldet: Komplette Reisekostenerstattung,
freie Unterkunft und Verpflegung, bei sechs Stunden gemeinnütziger
Arbeit – da blieb genügend Freiraum für eigene
Unternehmungen, Wanderungen, Besichtigungen, Kinobesuche, Vorträge,
Lektüre, Diskutieren, Singen, Reden und Flirten.
Ich war Mitglied im dreiköpfigen Leitungsteam dieser Veranstaltung
und sehr besorgt, alles richtig und gut zu machen. Ich sollte mich
besonders um die ausländischen Jugendlichen kümmern,
zwei Franzosen, eine Italienerin, zwei Engländer und diese
beiden Finninnen, und sie mit den organisatorischen Bedingungen
ihres Aufenthaltes vertraut machen.
Nicht jede Gelegenheit konnte ich nutzen, um neben Eewa Kaarina
zu gehen oder zu sitzen, denn das würde ja auffallen und würde
Bevorzugung signalisieren. Immerhin gelang es mir, bei einer Nachtwanderung
in der ersten Lagerwoche neben ihr zu sein, und als ich ihre Hand
fasste, erwiderte sie den Druck und ich war glücklich.
Von nun an war es ganz selbstverständlich, dass ich neben
ihr ging oder neben ihr saß, wenn wir abends im Wald im Kreis
unsere englischen, spanischen, französischen und deutschen
Lieder sangen, und dass ich ihre Hand hielt, wenn niemand guckte.
Da inzwischen alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre ständigen
Begleiter gefunden hatten, wurde unsere Verbindung ebenso kommentarlos
hingenommen, wie wir Teamworker die anderen sich entwickelnden
Paarbeziehungen unter den insgesamt 20 Jugendlichen unkommentiert
ließen. Wir waren damals, vor fünfzig Jahren, wohlerzogene,
zurückhaltende, hinreichend gehemmte, ja, verklemmte Teenager,
weit entfernt von jeder Übergriffigkeit, und wir Teamer waren
zuständig für die Organisation, nicht für die Moral.
Eewa Kaarina – ich redete sie stets mit ihrem vollen Vornamen
an, nicht nur einfach Eva, weil mir der fremdländische Klang
ihres Namens so gefiel. Scheu war sie, liebenswert scheu. Als ich
eines Tages in der Mittagspause zu ihr ging, war sie gerade damit
beschäftigt, in einer Schüssel mit milchigem Seifenwasser
irgendein Wäschestück zu rubbeln. Sie hielt das weiße
Etwas unter Wasser, damit ich nicht sehe, dass es sich dabei um
ihren Büstenhalter handelte, den sie auswusch. Wahrscheinlich
versteckte sie in der seifigen Brühe auch noch ihre Höschen.
Ich traute mich nicht, ihr näher zu kommen, Hand halten, dachte
ich, möchte ja noch gerade durchgehen, aber jeder darüber
hinaus gehenden Zärtlichkeit, meinte ich, müsse ich mich
wohl enthalten, wegen Moral, Schicklichkeit und meiner Verantwortlichkeit.
Während die anderen Pärchen engumschlungen von ihren
Waldspaziergängen zurückkehrten, war ich über Händchenhalten
noch nicht hinausgekommen, hatte mir lediglich vorgestellt, wie
denn wohl ein finnischer Kuss schmecken würde und mit welchen Überraschungen
ich da zu rechnen hätte. Ob sie sich umgekehrt vorstellte,
wie ein deutscher Kuss schmeckt? Ich beschloss, mir nach jeder
Mahlzeit die Zähne zu putzen und auf‘s Rauchen zu verzichten,
weil ich meinte, es könne nicht schaden, auf alles vorbereitet
zu sein.
Statt es auszuprobieren, erzählte ich von der Gärtnerei,
die unsere Familie nach dem Krieg gemeinsam aufgebaut hatte, harte
Arbeit, und sie berichtete mir von ihrer Familie, ihrem großen
Bruder und ihrer kleinen Schwester, von dem See und ihrem Ferienhaus
auf einer kleinen Insel im Norden Finnlands, die ihrem Vater gehörte,
und von ihrem Vater und dem rauen Geschäft des Holzhandels.
Sie zeigte mir ihren Rucksack. Ihn hatte ihr Vater getragen, als
er in den Krieg zog, in den finnisch-russischen Krieg. Er sah genauso
aus wie der Rucksack, den mein Großvater aus dem ersten Weltkrieg
mitgebracht hatte. Der nannte ihn seinen „Affen“, wohl
weil die Außenseite mit einem braunen Fell überzogen
war. „Schau“, sagte sie, „siehst du diesen dunklen
Fleck? Er geht nicht weg. Mein Vater sagt: ‚Der Rucksack
hat Russenblut getrunken‘.“
Und dann erzählte ich von meinem Vater, seiner Schussverletzung
in Russ-land, die ihm einen Lazarettaufenthalt und danach die ihn
rettende Versetzung an eine andere Front einbrachte. Und sie erzählte
mir von ihrem Vater. Sein Freund und Kamerad sei in seinen Armen
verblutet. Es sei in diesem Krieg nicht ungewöhnlich gewesen,
dass sich ein einzelner finnischer Soldat aufmachte, um den Tod
seines Kameraden zu rächen, sich in der Winternacht an irgendeinen
russischen Vorposten anschlich, den wachhabenden Soldaten überwältigte
und ihm die Kehle durchschnitt. Ich sah, wie sie weinte, als sie
mir das erzählt hatte. Als ich sie fragte, warum sie weinte,
sagte sie: „Ich will nicht, dass mein Vater ein Mörder
ist.“
Ich erinnerte mich an das Wenige, was mein Vater vom Krieg erzählt
hatte, sah ihn an einen glutheißen Tag in Oberitalien hinter
einem Transformatorturm Deckung suchen, während ein englischer
Flugzeugpilot Jagd auf ihn machte, ihn um diesen Turm hetzte und
beschoss, immer wieder Angriffe auf ihn, einen einzelnen deutschen
Soldaten, flog und erst abdrehte, als mein Vater erschöpft
zusammengebrochen am Boden lag und der englische Pilot wohl annahm,
er hätte ihn getroffen – da sah sie auch meine Tränen.
Krieg. Das Thema war noch heiß in den ersten Nachkriegsjahren.
Liebevoll sorgende Väter, weltweit, zu Mördern und Mordopfern
gemacht, zu Jägern und Gejagten, verstümmelt an Leib
und Seele.
Sie wollte nach dem Abitur Lehrerin für kleine Kinder werden,
und für mich, der ich nur zwei Jahre älter war als sie,
begann nach den Sommerferien mein Volksschullehrer-Studium. Und
dieses Jugendlager zu betreuen war Teil meines Sozialpraktikums,
dessen Ableistung die Hochschule forderte.
Sie fragte, ob ich eine Freundin hätte, und ich erzählte
ihr von meiner langjährigen Schulfreundin Gislind und fragte
sie: „Sicher hast du doch einen Freund in Finnland?“ [...]
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