Leseprobe

 


Hans Witteborg

Der Seher


Der Staub der Geschichte hat sie zugedeckt, jene Straße auf der Kamele schon vor viertausend Jahren die wertvolle Fracht, seltene Tuche, Salz und Metalle zu den großen Handelsplätzen brachten. Die Gegend war trocken und nur wenige niedrige Buschpflanzen hielten krampfhaft das staubige Erdreich, unterstützt von unzähligen Steinen, die wie hin gestreut oder als nackte Brocken den Augen wenige Haltepunkte der Abwechslung boten.
Es war um die Mittagszeit als das glühende Erdgestirn den Höhepunkt seiner täglichen Bahn erreicht hatte. Auch zu dieser Jahreszeit glühte der dürre Boden unter der unerträglichen Hitze; die Flimmerzeit in der das Hirn auszudörren schien und die Augen nur noch verschwommen Konturen unterschieden.
Ein Hirtenjunge - er mochte ungefähr zwölf bis dreizehn Sommer zählen - wurde hinter einer Bodenwelle sichtbar, mühsam und erschöpft stocherte er sich mit seinem Hirtenstab, einem mannshohen, dünnen knorrigem ehemaligen Akazienast vorwärts, während seine knochendürren Ziegen, wenige an der Zahl, lustlos sich von seinen Pfiffen antreiben ließen. Der hüftlange, zerrissene Rock aus Schafwolle und ein zu einem Turban gegen die Hitze gebundenes Tuch, dessen Farbe längst verblichen war, vervollständigten das ärmliche Bild, zu dessen jammervoller Erscheinung die barfüßige Nacktheit beitrugen. Die kleine Karawane trottete lustlos auf eine Wegzweigung zu, die von einem markanten, flachen Felsbrocken gekennzeichnet war. Auf diesem sah der Hirtenjunge erst jetzt eine gebeugte Gestalt sitzen, die er, der flimmernden Luft offenbar geschuldet, vorher gar nicht bemerkt hatte.
Der Junge pfiff seine kleine Herde zusammen und schritt neugierig auf die Gestalt zu. Noch bevor der diese erreichte, fragte eine brüchige Stimme wer sich da näherte.
„ Das siehst du doch“, entgegnete der Hirte keck.
„ Wie sollte ich“, fragte der Fremdling zurück. Erst jetzt bemerkte der Junge, daß der alte Mann zwar seine Augen geöffnet hatte aber die gelblich-weißen Augapfel hatte keine Pupillen, was ihm ein geisterhaftes Aussehen verlieh, was durch die Art seiner Bekleidung, ein bodenlanges Hemd, das mit einer Kapuze den Kopf umschloß, unterstrichen wurde. Sein Gesicht war wie das Aussehen eines Wadis von tiefen Furchen durchzogen, Kinn und Wangen bedeckte ein ungepflegter Bart, trotz seines Alters und der nach vorn gebeugten Gestalt war das Erscheinungsbild des alten Mannes eher Furcht einflößend. Der Hirtenjunge war jedoch alles andere als furchtsam - hatte er doch schon mutig einen Adler in die Flucht geschlagen, der ein neugeborenes Zicklein entführen wollte.
„ Wo kommst du her, Alter“, fragte er voll Neugier. Niemand und schon gar nicht ein Blinder würde sich in dieser wasserlosen Gegend ohne Not aufhalten wollen.
„ Das ist eine dumme, falsche Frage“, erwiderte der Alte und der Tonfall verriet, daß er sich ärgerte. „Ich komme von dort“, er zeigte gegen Osten, „von ganz weit her. Jetzt weißt du warum deine Frage dumm war, denn ich konnte sie nach meinem Belieben beantworten.“
„ Nun gut“, entgegnete der Junge lässig, „dann stelle ich die Frage, wohin du willst oder welches Ziel du hast.“
„ Schon besser“, bekannte der Fremdling. „Mein Ziel ist die Erkenntnis, ich sehe jedoch noch einen weiten Weg vor mir.“
Der Junge lachte: „Du siehst, hahahah, mit diesen Augen, lächerlich!“ „Ich sehe mit meinen Gedanken“, sagte der Fremde ohne einen drohenden Unterton, denn die menschlichen Schwächen waren ihm so vertraut, daß er sich darüber schon nicht mehr erregen konnte.
„ Und was siehst du“, fragte der Jüngling amüsiert.
„ Ich sehe in weiter Ferne Menschen, die durch die Luft fliegen, wie die Vögel in einem Zugverband.“
„ Wo, wo?“ fragte der Hirtenjunge aufgeregt und betrachtete den Himmel als erwarte er ein besonderes Wunder. „Du lügst, ich sehe auch in weiter Ferne nichts und meine Augen sind scharf wie die eines Falken!“
„ Dummkopf“, tadelte der alte Mann, „mit in weiter Ferne meine ich eine ganz andere Zeit ... die Zukunft.“
„ Hahah, Menschen, denen Flügel gewachsen sind“, kicherte der Junge, „haben sich wohl mit den Geiern gepaart.“
„ Nun, wenn du das so lächerlich findest, dann wirst du mir auch nicht glauben, daß sich die Menschen an jedem Platz der Welt mit jedem unterhalten können, so wie ich mich jetzt mit dir.“
„ Dann müssen sie Stimmen haben, die gewaltiger sind als das Brüllen des Ozeans, bei diesem Lärm kann sich doch niemand unterhalten. Du denkst dir schlimmere Geschichten aus als die Schreiber und Märchenerzähler der Stadt Ur. Vielleicht können sich die Menschen auch über die Entfernung sehen ... nein, nein so dumm bin ich nicht dir zu glauben.“
„ Natürlich können sie auch das“, sagte der Seher erstaunt, das hast du gut erraten.“
„ Du mußt aus der Sonne gehen“, sagte der Hirte, „dein Hirn dörrt aus, alter Lügner.“ Der alte Mann stand mit erstaunlicher Behendigkeit auf, stampfte vor Zorn mit dem Fuß, drehte sich abrupt um, indem er zugleich eine Staubwolke aufwirbelte, daß dem Hirtenjunge Sand in die Augen flog und er im ersten Augenblick nichts mehr sah. Als er wieder einen klaren Blick erlangte, war der Alte wie vom Erdboden verschluckt. „He, wo bist du alte Eule“, schrie der Jüngling, der jeden Respekt vermissen ließ. Nichts rührte sich. Der Staub deckte die Erde zu und senkte sich über das Land und die Zeit und längst auch über den kleinen Hirtenjungen, deckte auch dessen Erlebnis zu, denn der Mensch und seine Werke fallen dem Vergessen anheim, die Zukunft aber bleibt ihm verschlossen. Er sieht, was er sieht, er hört was er hört und glaubt nur was er glauben will ... die Zeit jedoch schreitet voran ...
Es war Winter in New York. Der Schnee hatte eine weiße Decke über den Central-Park gelegt und um die Uhrzeit 9.25 p.m. war das berühmte Stadt-Erholungsgebiet menschenleer. Die berittene NY-Police Patrollie hatte ihren Schutzauftrag bereits begonnen und ritt die Hauptwege des Parks entlang. Plötzlich sahen sie auf einer verschneiten Parkbank ein Stück neben dem Hauptweg eine Gestalt sitzen, offenbar ein Jogger, der trotz der Kälte dort wohl eingenickt war. Da sie den Hauptweg nicht verlassen durften, gaben sie per Funk den Standort durch und baten die zuständigen Streifenpolizisten sich des Vorfalls anzunehmen.
In weniger als zwei Minuten waren die Streifenbeamten, Police-Officer Mc Ire und Sergeant Wellington, vor Ort. „Können wir Ihnen behilflich sein, Mister?“ fragte der Officer sachlich. Der Jogger sah unter seiner Kapuze hervor, das heißt, von sehen kann hier nicht die Rede sein, denn seine im Taschenlampenlicht erleuchteten Augäpfel starrten ohne Pupille in Richtung des Sprechers. Der Jogger schwieg beharrlich. „Was tun Sie hier?§ insistierte der Polizist, „wer sind Sie, Name, Adresse?“ das war im schärferen Ton gesprochen. „Zu viele Fragen auf einmal und zudem dumm“, murmelte der Unbekannte. Und, da er offenbar ahnte, wie die NY-Polizei auf derartige Respektlosigkeit reagieren würde, setzte er hinzu: „Ich bin ein alter Mann, der niemand belästigt und gleich verschwunden sein wird!“
„ Verschwunden? Wohin?“ fragte Sergeant Wellington ärgerlich.
„ Ich werde mich einfach auflösen“, antwortete der alte Mann spöttisch. „So wie sich in Zukunft die Menschen von einem Ort zu einem anderen hinweg bewegen wird indem er sich in Atome auflöst und durch seine Gedanken an dem Bestimmungsort wieder zusammensetzt ... oder einfach am Ort verbleibt und seinen eigenen zweiten Körper auf die Reise schickt ... Bilocation!“ Der Police-Officer machte die Bewegung eines Scheibenwischers vor seiner Stirn und Welligton ergriff den Arm des offenbar Verwirrten. Das heißt, er wollte ihn ergreifen, doch seine Hand fuhr ins Leere, der Fremde war verschwunden, einfach weg. Die beiden Polizisten waren starr vor Verblüffung. Nach einigen Schrecksekunden stotterte der Police-Officer: „Nichts war ... kein Vorfall ... kein Nichts ... verstanden? Jede Meldung unterbleibt ... ich will nicht im Irrenhaus enden und wenn dir deine Karriere etwas bedeutet, hast du nichts gesehen, nichts gehört ... wir waren überhaupt nicht da ... klar!?“
So ist der Mensch: immer neugierig auf die Zukunft, doch wenn sich der Vorhang nur einen Millimeter hebt, kann er die Zukunft nicht ertragen, weil sein Verstand nichts begreift, denn nur was seine Erfahrung ihn gelehrt hat, ist für ihn verständlich, so klein nimmt er sich aus im großen Ganzen.
Menschlein, dein Weg ist noch ein unendlich weiter ...