Leseprobe


„ Manchmal dauert ein Weg ein Leben lang –
Vom Gulag nach Berlin“ von Lena Kelm

(S.89 und folgende) Ukas. Mein Vater auf dem Weg nach Sibirien.

Trotz der Garantie des Nichtangriffspaktes überfiel Hitler die Sowjetunion
am 22. Juli 1941. Bondar wurde eingezogen. Am 30. August 1941
(am 9. des Monats war sein fünfunddreißigster Geburtstag) wurde Vater
zum Sammelpunkt bestellt. Es hieß, ein Zug mit Soldaten geht an die
Front. Und wieder hieß es Abschied zu nehmen. Der wievielte war es im
Leben meiner Eltern?! …

…Nun fuhren sie, Achtzehn- bis über Sechzigjährige, zusammengepfercht
in einem Viehwagen im Schneckentempo in Richtung Osten, was sie erst
nach einigen Tagen feststellen konnten.
Der Zug hielt mit Absicht nachts. Die Insassen hatten tagsüber auch
nichts von der Außenwelt mitbekommen. Die Türen der Viehwaggons
waren stets geschlossen. Es stank darin bestialisch. Beim Anhalten des
Zuges konnte man frische Luft schnappen, die Füße vertreten, die Notdurft
im Freien verrichten. Bei jedem weiteren „Ausgang“ merkten sie,
der Zug rollt unausweichlich in Richtung Norden. Hinter Swerdlowsk
war die Kälte nur noch durch die Körpernähe der anderen zu ertragen.
Es wurde immer kälter, der Boden war zu Stein gefroren, soweit man
ihn erkennen konnte, denn die Landschaft lag unter meterhoher Schneedecke.
Das „Austreten“ beim Stopp fiel immer schwerer wegen der grausamen
Kälte und der körperlichen Schwäche. Auch das Spekulieren darüber,
was man mit ihnen vorhatte, ließ nach. In den ersten Wochen gab es
noch hitzige Debatten: Die einen glaubten, man bringe sie in den Fernen
Osten, um die Japaner zu bekämpfen, die anderen tippten auf die Nordsee-
Front, die dritten waren der Meinung, sie werden als deutschsprechende
für besondere Aufgaben ausgebildet. Die extremen Pessimisten
prophezeiten allen den baldigen Tod. Ihnen wurde heftig entgegnet:
„Dann hätten sie uns schon längst an Ort und Stelle umgebracht, wozu
dieser unsinnige Transport?“ Dieser Einwand war auch der einzig logische
und realistische für die Männer, alte und junge, gesunde und kranke,
die auf dünnem Strohlager saßen, schliefen, hungerten. Alles andere
waren Phantasien der Männer, die für ihre Heimat bereit waren zu kämpfen,
nun aber in Richtung Nirgendwo gebracht wurden, und nicht mal
einer Erklärung würdig waren. Niemand von diesen tausend und zehntausend
Menschen konnte zu diesem Zeitpunkt erahnen, was man mit
ihnen vorhatte, und was zur Realität für viele Jahre wurde, als es endlich
hieß: „Alle aussteigen! Endstation! Zweier-Reihen bilden!“
Ihnen bot sich ein Bild des weißen Schneemeeres, das sich bis zum dichten
Wald, dessen Bäumen in Schnee gehüllt, einige hundert Meter ausbreitete.
Es war schön: weiße Baumkappen, die Landschaft verzuckert
und verzaubert, trotzdem beängstigend. Der Schnee blendete. Der klirrende
Frost erschreckte die ausgemergelten Menschen. Die eisige Luft
verschlug ihnen den Atem. Diejenigen, welche Handschuhe und Mützen
besaßen, zogen sie über, die meisten hatten keine. Nur die Wache war
in Pelze, Fellmützen und Filzstiefel gehüllt. Ihre Hunde hatten Fell und
das war sibirische Kälte gewohnt. Die Russlanddeutschen mussten sich
daran gewöhnen. Nicht nur an die eisige Luft, daran, als Hunde zu leben
oder zu sterben, mehr stand ihnen nicht zur Wahl. Was sie danach schon
beim Graben der Erdhöhlen, ihrer ersten Behausung taten, um zu überleben.
Später wurden Baracken aus gefällten Bäumen gebaut.
Beim Fällen der Bäume, das zur Hauptaufgabe der Iwdel-Lagergefangenen
wurde, starben Tausende Männer. Als sie ankamen, war es Ende
Oktober. Sie waren zwei Monate unterwegs gewesen. Die Temperaturen
fielen in den nächsten Monaten auf minus fünfzig Grad. Es war fast
hinter dem Polarkreis. Die Menschen starben wie die Fliegen. Sie mussten
und konnten gar nicht dagegen rebellieren, umgebracht zu werden,
sie starben durch Hunger und Kälte. Diejenigen, welche die Tagesnorm
nicht erfüllten, bekamen abends kein Essen, mussten aber am nächsten
Tag wieder arbeiten. Irgendwann fielen sie einfach um. Einige wurden
im Wald von den bewaffneten Wächtern zurücklassen, damit sie „ihre
Norm erfüllen“, was ein Todesurteil bedeutete. Begraben wurde im
Winter nicht, die Leichen wurden gestapelt und erst, als die Erde etwas
nachgiebiger erschien, etwa im Juni, Juli, wurde das Massengrab zugeschüttet.
In den Sommermonaten ernährten sie sich von gesammelten Pilzen und
gefangenen Fischen. Seitdem hat mein Vater nie mehr Pilze gegessen. Er
glaubte, Maden in der „Pilzsuppe“ schwimmen zu sehen. Fische kamen
auch sehr selten auf ihren Mittagstisch. Die Deutschen fällten Bäume
und bauten Flöße, die bis zur Nordsee oder zu einem größeren Fluss, wo
die Schiffe warteten, getrieben wurden. Das Land brauchte Holz. Der
Tod von tausenden Deutschen zählte nicht.
Mein lieber Vater erzählte mir, wie er sich vor den schweren Lasten
schützte, indem er rief: „Eins, zwei, drei, los!“, alle packten zu, er tat aber
nur so, als ob. Es war eine notgedrungene Schutzmaßnahme, es ging ums
Überleben. Heute würde es so mancher Mensch drücken nennen, aber
ich habe meinen Vater nur als ehrlichen und fleißigen Menschen erlebt
und seine bäuerliche Schlauheit sogar bewundert. Er versuchte zu überleben
und es gelang ihm da, wo einzig „die Taiga das Gesetz“ war. Der
Kampf ums Überleben in der Taiga des Nord-Urals dauerte sieben lange
Jahre.
Eines Tages erkrankte er trotz alledem, denn diese Sklaverei hielt auch
er, obwohl so jung und lebenskünstlerisch, nicht aus. So kam er in die
kleine Stadt Iwdel, zuerst ins Lazarett. Das Städtchen - ein paar Holzhäuschen
und Baracken - nannte man tatsächlich Stadt. Iwdel bewohnten
die Angestellten des Iwdel-Arbeitslagers, auf Russisch „Trudarmee“. Als
es meinem Vater besser ging, sollte er beim Bau der „Villen“ der Lager-
Obrigkeit helfen. Dank seiner „goldenen Hände“ behielt man ihn in der
Stadt. Dies war die entscheidende Wende, sie rettete meinem Vater das
Leben. Hier bekam er von den Ehefrauen der Natschalniks ein Stück
Brot, ein Süppchen, etwas Tabak, den er als Nichtraucher für Brot eintauschte.
Sogar meine Mutter, die endlich seine Adresse hatte, schickte
ihm Tabakpäckchen. Diesen Tabak baute meine Mutter in der Kolchose
Tasbulak im Süden Kasachstans extra für Vater an.