Leseprobe

 

Manfred Burba


Nächtlicher Hafen

Die Flut erreicht den Hafen
und Kutter laufen ein.
Aus engen Ruderhäusern
dringt trüber Lampenschein.

Vom Feuer auf der Mole
erleuchtet ist der Strand.
Es treiben grau im Wasser
die Möwen vor dem Land.

Die See umspült die Buhnen
und Nebel zieht heran.
Im Hafenbecken legen
die letzten Schiffe an.

Ein Wind bewegt die Flaggen
am menschenleeren Kai.
Erloschen sind die Lichter
der Hafenmeisterei.

Die Nacht verschließt den Hafen.
Als Regen rinnt die Zeit.
Die Brandung in der Ferne
rauscht durch die Dunkelheit.



An meiner Hand

für Wiebke

Du bist an meiner Hand gegangen,
hast freudig zu mir aufgeschaut
und mit erwartungsvollen Augen
mir deine Kindheit anvertraut.

Ich nahm sie auf in meine Obhut
und pflegte sie mit Zärtlichkeit;
sie fühlte sich bei mir geborgen,
behütet und in Sicherheit.

Das gab dir Zuversicht und Stärke
und half dir, in der Welt bestehn,
sie zu begreifen und zu lieben
und deinen eignen Weg zu gehn.

Die Zeit der Kindheit ist vorüber,
jetzt gehe ich an deiner Hand,
doch deine großen, blauen Augen
sind mir noch immer zugewandt.


Der Tisch meiner Kindheit

Der Tisch meiner Kindheit
ist reich gedeckt.
Auf dem Linoleum
türmen sich die Erinnerungen:
Der zwiebelschneidende Vater.
Die Augen verkniffen.
Tränen fallen auf das
zerfurchte Hackbrett.
Vor dem Abwaschtisch die Mutter
poltert mit dem Geschirr.
Ich spiele mit
Eicheln, Bucheckern
und Kastanien:
Die Früchte eines langen Tages.
In der Guten Stube nebenan
glänzt die Mahagoniplatte
wie das Holz unserer Särge.



Die eigene Meinung

Es ist nicht leicht, mit ihr zu leben,
so lebt man oft von ihr getrennt;
es soll auch viele Fälle geben,
in denen man sie gar nicht kennt.

Beharrlich muss man nach ihr suchen,
dem schnellen Griff entzieht sie sich,
da hilft kein Jammern oder Fluchen,
nur viel Geduld ist förderlich.

Der Weg zu ihr steht jedem offen,
doch ist er steiler als man denkt.
Man kann sich viel von ihr erhoffen,
nur kriegen wir sie nicht geschenkt.



Kästners Lyrik

Was er beschreibt in seinen Versen,
das ist im Allgemeinen klein;
er hat ein Herz für „kleine Leute“,
das könnte gar nicht größer sein.

Und sein Humor und seine Sprache
sind schlicht und einfach und konkret;
er kann die Welt in Worte fassen,
sodass sie jedermann versteht.

Die Bilder und die Reime treffen
und die Pointen sind prägnant;
ironisch ist er, streng und kritisch
und als Satiriker bekannt.

Im großen Ganzen wirkt er heiter,
wie man das auch bei Mozart hat,
ob alle ihn wie Mozart lieben,
das steht auf einem andern Blatt.



Der Kleinstadtpoet

Manch einer ist nicht zu belehren
und ganz und gar darauf erpicht,
sein Inneres herauszukehren
in einem lyrischen Gedicht.

Er möchte jedermann erzählen,
worunter er im Leben litt
und was ihn für Gedanken quälen
und welche Meinung er vertritt.

Doch mangelt es ihm an Erfahrung
auf literarischem Gebiet,
was er bei seiner Offenbarung
ganz offensichtlich übersieht.

So wählt er stets dieselben Worte,
lässt Reim und Rhythmus außer Acht
und Verse von der schlimmsten Sorte
sind schließlich zu Papier gebracht.

Die Tageszeitung druckt bisweilen,
was er in Strophenform verbricht
und mancher Leser liest die Zeilen
und denkt - welch herrliches Gedicht!



Der Typ von nebenan


Wen ich partout nicht leiden kann,
das ist der Typ von nebenan,
denn all sein Streben geht dahin,
nicht so zu sein, wie ich es bin.

Er raucht und trinkt nicht, isst nicht viel,
hält nichts von BILD und Lottospiel
und fliegt schon gar nicht nach Taiwan,
Sri Lanka oder Pakistan.

Im Garten lässt er Unkraut steh‘n,
die Kinder auf den Rasen geh‘n,
und vor dem Haus parkt ein Objekt,
verbeult, verrostet und verdreckt.

Er lebt nach Kneipp und Hahnemann,
hat immer Jeans und T-Shirts an
und joggt noch abends durch den Ort,
trotz Spielfilm, Tagesschau und Sport.

Was mich jedoch am meisten stört ...
dass dieser Mensch nicht auf mich hört
und sich auch weiter so benimmt,
als ob bei mir nicht alles stimmt.



Ein Pauker der alten Schule

Man hatte ihn kürzlich nach W. versetzt,
wohl wegen der kränklichen Stimme.
Sein Kehlkopf wurde im Krieg verletzt,
und das war für ihn das Schlimme.

Er lehrte Geschichte und Religion
und musste bei uns unterrichten.
Sein Lieblingsthema war Salomon
und andere alte Geschichten.

Sobald er von Moses und Aaron sprach,
von Saul und den großen Propheten,
da dachten wir über Fußball nach,
die Mädchen und die Moneten.

Und unter den Bänken spielten wir Schach,
auch war uns nach Schlafen und Gähnen,
zur Pause wurden wir wieder wach
mit Kaugummi zwischen den Zähnen.

Er dachte an Gott und merkte nicht viel
und hörte sich selber nur sprechen,
da kamen wir auf ein böses Spiel
mit ihm und seinem Gebrechen.

Wir brummten im Chor mit lächelndem Mund
und blickten empört in die Runde
und störten so aus dem Hintergrund
die ganze Unterrichtsstunde.

Was halfen ihm da seine Frömmigkeit
und Israels alte Geschichte,
das Lernen aus der Vergangenheit ...?
Wir machten ihm alles zunichte.

Er stand vor der Klasse hilflos und bleich
und bebte an Händen und Füßen.
Es war schon ein hundsgemeiner Streich –
doch keiner musste ihn büßen!


Aus dem Unbewussten

Wir sind an manchen Tagen
und wissen nicht warum,
nur schwerlich zu ertragen
als Individuum.

Da bleibt uns nichts verborgen,
geschärft ist der Verstand,
es stört uns schon am Morgen
die Fliege an der Wand.

Beherrscht von dem Verlangen
nach Recht um jeden Preis,
sind wir alsbald gefangen
in einem Teufelskreis.

Der Anlass ist meist nichtig,
der Ärger riesengroß,
nur das allein scheint wichtig:
wie werden wir ihn los?

So kommt, was kommen musste,
wenn man es unterdrückt,
dann spielt das Unbewusste
gelegentlich verrückt.


Bilder der Kindheit

Hier spielten wir als Kinder Räuber und Gendarm,
wenn wir uns abends am Pulverkrug trafen
und saßen im Keller bei Fliegeralarm,
aus den Träumen geholt und ganz verschlafen.

Hier schlüpften wir ins Kino im Hindenburgsaal
nach der Wochenschau mit tastenden Händen
und hockten gespannt auf dem Heizungskanal
vor den Hakenkreuzfahnen an den Wänden.

Hier lagen wir frierend in der Badeanstalt
und hörten die Werkbahn pfeifen und fahren
und krochen in die Sprengstoffbunker im Wald
als sie verlassen und unbewacht waren.

Hier kauften wir Comics von unserm Taschengeld
und jagten am Friedhof Mäuse und Ratten.
Die Lehrer erzählten von Gott und der Welt,
nur nicht vom Krieg, den sie verloren hatten.

Hier kamen wir später nie wieder zusammen,
und heute ist dies ein veränderter Ort,
doch die Bilder, die aus der Kindheit stammen,
sie bleiben erhalten – und wirken noch fort.



Flucht aus Venedig

Sein Ruf vor Ort war nicht der beste:
Er war ein Spieler und Charmeur.
Er reiste viel, ging gern auf Feste
und hatte keine reine Weste
als Lebemann und Hasardeur.

Er trieb Magie und lebte prächtig
nach seiner eigenen Fasson.
Er liebte Frauen, und zwar heftig,
war zügellos und sehr verdächtig
der staatlichen Inquisition.

Als Folge solcher Art von Sünden
verurteilte das Tribunal,
wohl aus verleumderischen Gründen
und ohne etwas zu verkünden,
ihn wegen gottloser Moral.

Man sperrte ihn auf einen Söller,
von einem Wärter streng bewacht.
Doch er war klüger, dachte schneller
und immer auch origineller
als jene, die ihn hergebracht.

So floh er aus dem Staatsgefängnis,
was keinem vor ihm je gelang.
Das Tribunal sprach von Verhängnis,
war bloßgestellt und in Bedrängnis
durch ihn und seinen Freiheitsdrang.

Im Ausland machte schnell die Runde,
wie er der Polizei entwich.
Sein Name war in aller Munde,
sein Stern ging auf in dieser Stunde,
und alle amüsierten sich.

Giacomo Casanova (1725 – 1798), der sich „Chevalier de Seingalt“ nannte, entfloh 1756 aus dem Staatsgefängnis (den „Bleikammern“) der Republik Venedig und entkam so dem mächtigen „Rat der Zehn“ bzw. der Staatsinquisition, was ihn in ganz Europa bekannt machte.