Leseprobe:
Das Smartphone
schreckte ihn auf. Erna Habicht, die Lebensgefährtin
seines Vaters, verlangte nach ihm. Auch das noch, dachte
Brandt und wusste sofort, wenn Frau Habicht anrief, war
bestimmt etwas passiert. Und richtig. Der Vater sei wieder
einmal gestürzt, vermeldete Frau Habicht mit einer
Stimme, die sich fast überschlug. Der Vater liege
seit gestern Abend auf der Intensivstation im Sankt-Marien-Krankenhaus
in Siegen, Zimmer 302 A. Diesmal habe der Vater sich
einiges gebrochen. »Es sieht nicht gut aus«,
so Frau Habicht am Telefon. »Ein Brustwirbel ragt
mit der Knochenspitze fast bis in den rechten Lungenflügel
hinein!« Der Vater atme schwer, hänge am Sauerstoff,
werde vollgepumpt mit Schmerzmitteln, intravenös.
Dazu sei noch das Schlüsselbein zertrümmert,
der Beckenknochen habe auch ordentlich was abgekriegt. »Der
Zustand ist sehr ernst«, sagte Frau Habicht noch,
legte dann eine Kunstpause ein, um abzuwarten, wie Brandt
auf ihre Nachricht - »Hiobsbotschaft« hatte
sie noch gesagt – reagiere.
Brandt fragte lapidar: »Und was hat das alles mit
mir zu tun?«
Er sei doch der Sohn. Es sei, so Frau Habicht, das Mindeste
jetzt, dass er, Brandt, seinen Vater besuche im Hospital.
»
Wozu?«, fragte Brandt.
» Um zu sehen, wie es um Ihren Vater steht.«
Das habe sie ihm doch soeben mitgeteilt, sagte Brandt.
Also wisse er, wie es um den Vater stehe. »Entweder
die Ärzte kriegen den wieder hin oder nicht.« Er,
Brandt, sei kein Arzt, könne also die gesundheitliche
Situation auch nicht einschätzen.
»
Sie sind ein Unmensch!«, keifte Frau Habicht, »ein
Unmensch sind Sie, wissen Sie das! Ein Kretin!« Und
legte auf. Brandt atmete tief durch. Das hatte ihm gerade
noch gefehlt: der Alte im Krankenhaus und er, Brandt,
der Sohn, sollte hin zu dem, vielleicht dem Alten noch
das kalte Händchen halten und sagen im mitleidsvoll-besorgten
Ton: »Armer, armer Vater! Was machst du nur wieder
für Sachen? Du weißt doch, dass du aufpassen
musst, wenn du die Treppe in den Keller nimmst.«
Brandt wusste ja, dass sein Vater nicht mehr so gut auf
den Beinen war seit seinem Schlaganfall. Da war einiges
zurückgeblieben, wie man so sagt, Behinderungen,
körperliche wie geistige, und alles irreparabel.
Dachdeckermeister Rudolf Brandt seit der Diagnose Apoplexie:
ein Mann, der zunehmend sichtbar zerfiel. Das ist die
Strafe, dachte Brandt. Er wusste nicht, warum er das
dachte, denn an Gott oder an das Kanzel-Geschwätz
der Schwarzkittel glaubte er nicht, aber diesmal dachte
er tatsächlich: Gott kriegt sie alle an den Arsch.
Ausnahmslos. Irgendwann war jeder dran. Niemandes Schuld
bleibt ungesühnt. Gott sieht alles, dachte Brandt.
Und Gott richtet. Dann oder dann. So oder so. Ob Lymphdrüsenkrebs
oder Gehirntumor oder Apoplexie – irgendwann schlägt
dieser Vater-unser-im-Himmel zu, nicht selten plötzlich
und erbarmungslos, und wenn du Pech hast, ist es dann
vorbei, das Leben, das du bis zu diesem Zeitpunkt wie
selbstverständlich geführt hast als Mann. Nun
also der nächste Schlag: der Sturz die vielen Treppenstufen
zum Keller hinab. Brandt kannte diese Treppe gut, er
kannte sie noch aus seiner Kindheit, seiner Jugendzeit,
als er noch gewohnt hatte im Elternhaus. Die Stiege war
eng, spärlich die Beleuchtung, nur ein einziger
Handlauf links an der Wand. War man bepackt mit irgendeinem
Zeugs, einem Kasten Bier zum Beispiel oder einem Wäschekorb,
konnte man, passte man nicht auf, schnell einmal auf
dem Rücken landen bei solch einer Transportaktion.
Dass Frau Habicht ihn immer noch anrief! Unmöglich!
Die wusste doch ganz genau, dass er mit seinem Vater
auf Kriegsfuß stand. Und das nicht nur seit wenigen
Wochen oder Monaten, sondern seit Jahren schon, Jahrzehnten.
Dass, wenn es eben ging, man sich aus dem Weg ging. Selbst
in der Stadt, wenn man sich zufällig traf im Supermarkt:
kein freundliches »Hallo!« oder »Guten
Tag, wie geht’s, wie steht‘s?«, wie
das so üblich ist, hatte man sich eine Zeitlang
nicht gesehen, sondern man drehte rechtzeitig ab und
nahm einen anderen Weg oder tat, als bemerke man den
anderen nicht. Wann hatte er das letzte Mal zusammengesessen
mit seinem Vater, ihn persönlich getroffen, ein
paar Sätze gesprochen mit dem? Zu dessen 75. Geburtstag
musste das gewesen sein, also vor vier Jahren. Ein schöner
Tag im Mai war das gewesen, der Himmel blau und fast
wolkenlos, schätzungsweise 23 Grad, dazu ein leicht
böiger Wind, der aus Osten kam. Natürlich war
Brandt mit seinem neuen Porsche vorgefahren, das Verdeck
war heruntergelassen, die Rockmusik aus dem CD-Player
lief laut, Judas Priest, live, Ram it down. Der Vater,
das hatte Brandt wohl bemerkt, hatte am Küchenfenster
gestanden, vielmehr hinter der Gardine gelauert wie ein
Spion, und sobald Brandt aus seinem Porsche ausgestiegen
war, wandte der Vater sich ab und verschwand irgendwo
in seinem großen Haus.
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