Leseprobe
Vera Forester
IM JAHR DER BRANDZEICHEN
Roman
1 Die Explosion
Lichtblauer Sommerhimmel über der ahnungslosen Stadt. Frühnachmittag.
Alles heiter, alles friedlich, alles in Ordnung. Der Katastrophendämon
hockte sprungbereit auf einem Dachgiebel und lauerte. Da erschien
sein Opfer. Krista. Tief unten bog Krista in die belebte Straße
ein. Schnell ging sie, schnell vorbei an der zusammengestückelten
Häuserzeile zwischen Vorstadt und Innenstadt, vorbei an
Cafés, Büros oder Werkstätten, an den originell
dekorierten Schaufenstern kleiner Spezialgeschäfte, wie
sie aus den kostspieligen Zentren deutscher Großstädte
verschwunden sind und seither in den Randvierteln nisten. Deutsche
und türkische, griechische, afrikanische, asiatische Läden
in dichter Nachbarschaft. Gerüche aus allen Windrichtungen
- ein buntes Kaleidoskop gewachsener oder hergetriebener Teilchen
des Welthandels. Krista näherte sich dem Ende der Straße.
Der Geist des Unheils schoss herab und heftete sich an ihre Fersen.
Noch spürte sie nichts.
Sie hatte Sommerurlaub, aber kein Geld für Reisen, und
ohne Geld zu reisen weder den Drang noch den Mut. Geschlafen
hatte sie bei - mit ihrem Freund. Martin. Er wohnte im ,Musikerviertel‘.
Vier gründerzeitlich bebaute Seitenstraßen trugen
dort die Namen berühmter Komponisten, von denen zwei sogar
für kurze Zeit hier gelebt und gearbeitet hatten. Nicht
sehr glücklich, was die offizielle Stadtgeschichtsschreibung
gern herunterspielte. Ihre Gedenkwege lagen abseits der zentralen
Kunstbetriebsmeile. Martin hauste in seiner Studentenbude mit
Kochnische und eigener Dusche unter dem Dach eines Backsteinhauses.
Kristas Beziehung mit Martin bröckelte seit Monaten, langsam
und von innen heraus, während die Fassade noch stand. Sie
konnten es nicht erklären und selbst bei angestrengtestem
Willen auch nicht aufhalten. Gemeinsam beobachteten sie fassungslos,
wie die Stützpfeiler ihres Zusammenhalts wackelten, wie
die Wände, Erker und Nischen zerfielen. In letzter Zeit
sahen sie alles aus unterschiedlichen Blickwinkeln, interessierten
sich immer schwächer für einander, warum? Für
die Empfindungen und Empfindlichkeiten des anderen, warum? Für
Gedanken oder Pläne des anderen, warum? Neu auftauchende
Menschen wurden interessant, fremde Berührungen weckten
Begehrlichkeit. Sie waren noch keine fünfundzwanzig Jahre
alt, da ändern sich die Perspektiven schnell. Trotzdem,
sie hatten noch nicht den Entschluss gefasst, sich ganz voneinander
zu lösen. All die Seelenstränge, Herzkanäle, Nervenbahnen,
Gefühlsadern, die sich in drei Jahren zwischen ihnen gebildet
und verschlungen hatten, hielten als Verbindungsfesseln ihre
Gemeinschaft notdürftig und bei jedem Ruck schmerzend zusammen.
Noch.
Die beiden hatten den gerade beliebtesten Salsakurs besucht,
wie immer am Mittwochabend. Gestern war die letzte Stunde gewesen,
die letzte vor der Sommerpause. Danach wollten sie aufhören.
Nichts mehr zusammen planen. Gar nichts. Nur abwarten, ob sich
aus der verkümmernden Wurzel ihrer Liebe noch einmal ein
frischer Zweig entwickeln konnte oder nicht.
Salsatanzen stand hoch in Mode, aber nicht nur deswegen machte
es Spaß, klar nicht nur deswegen. Salsa sei ein besonders
erregender Tanz, fantasievoller und vielseitiger als andere aus
Lateinamerika, hieß es. Salsa bedeutet im Spanischen ‚Sauce’.
Salsa sei die brodelnde Elementarmischung, aus der sich Rumba,
Cha-Cha-Cha, Tango, auch andere Schrittkombinationen herausgebildet
hätten. Oder umgekehrt? Waren die köstlichsten Elemente
anderer Tanzformen in die ,Salsa‘ eingeschmolzen
und zu einem scharfen Gebräu energiegeladener Bewegung aufgemischt
worden? Krista kannte beide Meinungen. Wie auch immer, es tat
gut und puschte zwei Körper in gemeinsame Wallung. Die Salsa
tanzenden Paare halten sich meistens eng aneinander. Ihre Vorwärtsschritte
sind stark und stampfend, ihre Rückwärtsschritte leicht
und auf den Fußballen gestelzt. Die Musik pulsiert, tönt,
schlägt. So rasant, dass beide Körper in eine synchrone,
fast atemlose Ekstase geraten. Die hocherotische Salsa-Ekstase.
Das pulsklopfende, wirbelnde Blutfeuerwerk. Als ob ein brandrotes
Teufelchen mit gesträubten Haaren immer mittanzen und die
Paare antreiben würde. Das war Krista und Martin noch geblieben,
die Freude am gemeinsamen Kreisen und Hüpfen und Drehen,
vor und zurück, an den durchgestreckten Kniestößen,
den kerzengeraden, Oberkörperdrehungen, an den Beckenberührungen,
der zeichenhaften Spielerei mit den Fingern. Es reizte sie noch,
das Wegstreben uuuuuuund Zusammengleiten, das männliche
Führen und weibliche Folgen nach den Regeln einer südlichen
Lebensleidenschaft, die vom Ursprung her nicht die ihre war und
sie gerade deshalb faszinierte.
Danach hatten sie mit anderen aus dem Kurs an den Gehsteigtischen
der angesagtesten Kneipe Abschied gefeiert. Auf einer urigen
Altstadtstraße, die im Sommer jeden Abend grasbüschelartig
von jungen Menschen bestanden, begangen, besessen wird. Zum Teil
drücken sie ihre Handys an die Ohren und verabreden sich,
um dann fünf Meter weiter zusammenzustoßen. Jedenfalls
war die Straße mit ihren Szenelokalen im Umkreis der Kunstakademie
nicht nur ein beliebter Tummeltreff, sondern auch die ideale
Startrampe für weitere nächtliche Unternehmungen.
Sie waren dann zu ihm gegangen, eigentlich hatte sie nicht gewollt,
trotzdem, waren sie eben. Einmal musste Schluss sein, aber warum
heute? Die Sinne vibrierten nach dem TanzenTrinkenReden noch
stundenlang in erhitzter Bereitschaft. Sie hatten sich sofort
aufs Bett gelegt und zusammengedrängt, die körperliche
Lust riss sie immer noch in atemlose, nach Untreuen und Verletzungen
mit Schmerz durchstochene Glücksmomente. Blindwütig
hatten sie sich im Rhythmus der Ekstase ineinander verkeilt,
ein Nahkampf, ein Zweikampf, ein Ringkampf, das steigerte sogar
den Genuss, so ist der Mensch. Danach waren sie in schweren,
verschwitzten Schlaf gesunken, am frühen Morgen hatten sie
sich noch einmal zusammengeworfen, dann bis gegen Mittag geschlafen.
Kein Problem, auch für ihn begannen die Ferien. Sie machten
sich aus allem, was sie im Kühlschrank fanden, einen Brunch.
Beim Essen flackerten wieder Schuldzuweisungen und Beteuerungen
und vage Hoffnungen auf. Wir sollten es wir könnten es wir
müssten es noch einmal ganz neu versuchen. Oder doch nicht?
Das ewige Lied.
Der Sommer war schwülheiß, er schleppte sich hin,
das neue Jahrtausend schleppte sich hin. 2000 nach Christus,
was für eine alte Menschheit auf der Milliarden Jahre alten
Erde. Nichts Neues, nichts Überraschendes, jedenfalls nicht
für Krista. Gut, das menschliche Genom war gerade entschlüsselt
worden. Eine epochale Umwälzung, eine wissenschaftliche
Sensation. So nannten es die Entdecker, die künftigen Nobelpreisträger.
Aber Krista konnte sich nichts darunter vorstellen. Auf ihr Leben
wirkte es sich nicht aus. Überhaupt nicht. Wieder einmal
war sie auf dem Heimweg, 27. Juli 2000, drei Uhr nachmittags,
sie wollte an der nächstliegenden Station die S-Bahn nehmen.
Momentan lebte sie in einer Vierzimmer-Altbauwohnung am anderen
Ende der City, gemeinsam mit einer Freundin und einem Freund
aus der Schulzeit. Man hielt es miteinander aus, wenn auch mit
kleinen Reibereien auf Kosten der Nervenkräfte.
Kurz vor der Station kaufte sich Krista ein Eis, ,beim
Italiener‘, wie man hier sagte. An diesem Ort betrieb er
jeden Sommer seinen Stand. Im Winter versah er die Gastronomie
einer Skihütte in den Dolomiten. Er hatte ein braungegerbtes
Gesicht mit Funkelaugen unter dicken schwarzen Brauen. Seine
geschickten Hände schaufelten heute unablässig mit
den Eislöffeln in den rechteckigen, parallel gereihten Trögen
vor ihm. „Un gelato misto“, das wusste sie noch von
einem Urlaub in Limone am Gardasee. Aprikose und Pistazie wählte
sie und Stracciatella. Lachsrosa, hellgrün, braungepunktetes
Weiß.
„Ciao bella signorina rossa“, rief er ihr nach, sie
winkte im Weggehen und warf die langen roten Kruselhaare zurück.
Drei Kugeln in einem essbaren Becherchen, das erfrischte, zerfloss
aber augenblicklich in der Julihitze; die Zunge strich in hurtigen
Zügen darüber, damit nichts auf das hellgemusterte
T-Shirt oder auf die weiße Röhrenhose tropfte.
Plötzlich zischte aus dem Universum ein scharfer Windstoß heran.
In der Windeseile verhüllte sich das Sommerblau mit grauem
Gewölk, der Abglanz auf den Mauern erlosch, die Leute bewegten
ihre Beine unwillkürlich etwas schneller.
Diese Stadt! Eine elegante Metropole, hoch oben auf der Lebensqualitäts-Skala
deutscher Kommunen. Modestadt. Kunststadt, Wohlfühlstadt,
wie sie sich selbst in Werbebroschüren rühmte. Ja,
aber mit trüben Kehrseiten. Zum Beispiel hier an der S-Bahn-Station.
Der Weg zum Bahnsteig führte zwangsweise durch ein winziges
vergammeltes Häuschen. Am Eingang war es bekleckst mit Stümper-Graffiti,
innen gekachelt in Schmutziggelb und Fadgrau. Immer nach Urin
stinkend. Da hing der Fahrkartenautomat, vor dem jeder verweilen
musste, der ein neues Ticket brauchte. Hässliches Licht
aus zwei mückenbeklebten Neonlampen. Durch eine primitive
Maueröffnung ging es am anderen Ende hinaus, dann über
eine hohe Bahnbrücke, zwei Meter breit und siebzig Meter
lang. Sie überspannte sieben Schienenstränge, auf denen
jeden Tag hunderte von Zügen hin und her wieselten. schließlich
knickte sie im Neunzig-Grad-Winkel nach links ab und mündete
in eine mit Wellblech überdachte Stiege, die steil zum Bahnsteig
abfiel. Tausende waren jeden Tag auf dem ungemütlichen Zugang
unterwegs. Stellenweise hatte Rost die Geländer angefressen,
der Boden war übersät von Blechdosen, Zigarettenschachteln,
Einwegspritzen und kaputtem Fixerbesteck.
Krista betrat vom Stationshäuschen her die Brücke.
Der Wind schwächte sich ab, dafür begann es zu tröpfeln.
Sie war nervös wie neuerdings immer, wenn sie von Martin
kam und durch den schäbigen Bahnhofskanal trabte. Schnell
weiter. Ihre linke Hand tippte halb unbewusst den Takt der im
Kopf ablaufenden Salsamusik von gestern auf das linke Brückengeländer.
Ihre Füße bewegten sich in angedeutetem Tanzschritt
vorwärts. Sie lutschte das Eis noch rascher und ließ es
portionenweise im warmen Mund zergehen. Dann und wann strich
sie mit dem Arm die vordersten kupferroten Locken aus dem Sommersprossengesicht,
damit sie sich nicht mit Eisschlieren verklebten.
Der Verhängnisdämon umkreiste alle, die in diesem
Moment auf der Brücke gingen. Nun hatte er seine Beute beisammen.
Vor Krista bummelte eine etwa achtköpfige Gruppe, Ausländer
verschiedenen Alters, lebhaft in einer Sprache rufend, die sie
nicht verstand. Was für eine Sprache? Eine slawische auf
jeden Fall, dachte sie, Russisch vielleicht. Krista erinnerte
sich an diese Fernsehreportage über einen kleinen russischen
Ort, in dem mit deutscher Beteiligung ein Sägewerk gebaut
worden war, sie hatte beim Schnitt assistiert. Ein verregnetes
Volksfest anlässlich der Einweihungsfeier auf dem Platz
vor dem Kirchlein mit den blau-goldenen Zwiebelturmkuppeln, Musik,
große Pfützen, tanzende Erwachsene, frierende Kinder.
Einer aus der kleinen Gesellschaft auf der Brücke artikulierte
langsam: "Bitte chaben Sie ein Glas Wasser fir mich? Es
ist cheiss." Die anderen lachten. "Es ist viel cheiss",
ergänzte eine Frau mit Piepsstimme. "Njet. Särr
cheiss", korrigierte ein Mann. "Nicht cheiss. Sagt
man hhheiss, heiss, heiss!", rief ein anderer.
Durcheinanderschreien im Lärm der vorbeischeppernden Züge.
Das Grüppchen nahm die ganze Brückenbreite ein.
Direkt vor Krista trottete eine hochschwangere Frau im charakteristischen
Watschelgang, eingehakt bei zwei jungen Männern. Krista
schob sich links an allen vorbei, mein Gott, warum trappelten
die so langsam? Wie Kühe oder Schafe, dachte sie, eine Herde
ist immer rücksichtslos. Sie sah auf ihre Uhr, fünfzehn
Uhr vier. Ihre nächste Bahn fuhr erst in zwölf Minuten,
aber auf der unwirtlichen Brücke wollte sie nicht trödeln.
Sie bewegte sich jetzt direkt vor der kleinen Schar. Ihre Finger
am Handlauf des linken Geländers stießen gegen etwas
Glattes, Weiches, Faltiges, Weißes. Sie dachte, da hängt
ja eine volle Plastiktüte, warum? Eine unbeschriftete Plastiktüte,
wer weiß was da Ekelhaftes drin ist! Sie zog die Hand ruckartig
zurück, ging noch drei Schritte, unten zuckelten ächzend
die Bahnen hin und her --
In diesem Moment knallte es. Explodierte etwas. In unmittelbarer
Nähe. Wahnsinnig laut. Markerschütternd laut. Ohrenzerreißend
laut. Dann knatterte es, rumpelte, krachte, prasselte und dröhnte,
klirrte, vibrierte und zischte es. Der Brückenboden schwankte.
Kleine Flammen schossen hoch. Große, nein kleine Geschosse
sausten durch die Luft. Es traf sie, schlug sie, schnitt sie,
stach sie, brannte an ihr. Brannte in ihr. Riss an ihrer linken
Hand etwas weg. Blut spritzte auf, ihr Blut. Unter den Füßen
versank der Halt, nein, die Füße sanken unter ihr
weg, ihr Kopf donnerte auf den harten Boden. Sie riss sich hoch,
es gelang nur halb, dann stürzte sie in einen Leiberhaufen,
fremde Körper, die sich durcheinanderkrümmten. Sie
sah sich fallen. Fühlte sich wegsacken. Konnte sich nicht
mehr bewegen. Lag da, auf und zwischen diesen zuckenden Menschen.
Erstarrt. Gelähmt. Halb ohnmächtig.
Nein, doch, sie konnte die Arme heben, sie riss die Hände
vors Gesicht. Blut drang in die Augen. Die scharfen Schneiden
sausten noch einmal in alle hinein, sie schrien, nein kreischten,
schrill und überlaut, wanden sich ineinander, Krista schrie
auch in diesem zuckenden Menschengewühl, jetzt hörte
sie Stöhnen, hörte sich stöhnen, es war das letzte,
was sie an sich bemerkte, ihr eigenes Aufheulen, fremd und roh.
Die linke Hand tat weh, wahnsinnig weh, als ob ein Schwert hineingefahren
wäre. An ihrer rechten Seite schmerzte es im Bauch. Der
Kopf dröhnte. Um sie schluchzte und brüllte es.
Dann fiel sie noch tiefer, fiel in eine Ohnmacht, aber sie sah
ganz genau die schwarzen Totenvögel, die sich aus der Höhe
des Himmels herabsenkten und zu beiden Seiten auf das Brückengeländer
setzten. Sie schlugen mit den Flügeln, bewegten die Schnäbel,
schauten ruckartig hin und her aus ihren Knopfaugen. Alles wie
in Zeitlupe. Ewigkeiten lang. Und erhoben sich wieder, rauschend,
und flogen davon.
Krista erwachte erst im Krankenhaus.
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